Island feiert die größte Sensation der EM-Geschichte

  29 Juni 2016    Gelesen: 601
Island feiert die größte Sensation der EM-Geschichte
Islands Fußballmärchen geht weiter. Das Land mit so vielen Einwohnern wie Bielefeld hat nur 100 Fußballprofis. Das reicht, um England zu besiegen - und eine englische Fußball-Legende zu beschämen.
Gut, dass der Rettungsweg im Innenraum des Stade de Nice unterhalb der isländischen Fangemeinde vergittert war. Wer weiß, wo ihre Spieler sonst mittlerweile angekommen wären. Womöglich wären sie noch Stunden nach dem 2:1 gegen England einfach weitergelaufen, berauscht und beglückt am eigenen Erfolg. Die Gefühle mussten raus. Emotionen, wie sie sie noch nie gespürt hatten. Nur wie? Wie bejubelt man etwas, das die Geschichte noch nicht vorempfunden hat? Sie liefen. Alle.

Wie ein Magnet zog es sie beim Abpfiff in Richtung ihrer 5000 mitgereisten Fans. Spieler, Trainer, Masseure, Zeugwarte. Wahrscheinlich war auch der Busfahrer noch mit dabei. Island im Vollsprint.

Ins Viertelfinale dieses Turniers und auch auf dem Platz. Die englischen Profis, die platt und enttäuscht auf dem Rasen lagen, nahmen sie nicht mehr war. Die weißen Trikots waren Zeichen der Aufgabe, zermürbt und gescheitert an der Abwehr des krassen Außenseiters.

Man muss bei dieser EM vorsichtig sein, will man einer Mannschaft, einem Spiel oder einem Ergebnis das Etikett "überraschend" anheften. Die Ungarn waren als Gruppensieger ins Achtelfinale eingezogen, ebenso Nordirland. Albanien gewann seine ersten drei EM-Punkte der Geschichte, Wales steht im Viertelfinale.

Was aber die Isländer nun erreicht haben, ist mit den gängigen Beschreibungen der Siege von Kleinen über die Großen nicht mehr in Worte zu fassen. "Es war unser bestes Spiel", sagte Trainer Heimir Hallgrimsson betont ruhig, "ich hoffe es kommt noch. Aber ich hoffe, dass wir gegen Frankreich mehr Karten für unsere unglaublichen Fans bekommen. Und auch in dem Spiel danach." Er grinste.

"Stressfrei ins Viertelfinale"

Bereits die EM-Qualifikation war eine Überraschung gewesen, der Einzug ins Achtelfinale eine Sensation. Nun steht das mit 320.000 Einwohnern kleinste Teilnehmerland im Viertelfinale. Ungeschlagen, und nach einem 2:1 über England. Ein Spiel, das zudem schon nach vier Minuten verloren schien. England war durch einen Foulelfmeter Wayne Rooneys in Führung gegangen. Der Abend lief wie erwartet, standesgemäß – genau für weitere zwei Minuten.

Dann schlugen die Isländer zurück. Ragnar Sigurdssson traf zum Ausgleich und ließ erahnen, dass sich diese Mannschaft durch nichts von ihrem Weg abbringen lassen würde. Auch nach dem 2:1 durch Kolbeinn Sigthorsson (18.) waren keine Zeichen von Nervosität erkennbar. Mutig und respektlos, aber überaus diszipliniert spulten sie ihr Programm ab.

Was gegen diesen erschreckend einfallslosen Gegner ausreichte und für einen bitterbösen Kommentar von Englands Fußball-Legende Gary Lineker sorgte. Es sei die "schlimmste Niederlage" in der englischen Geschichte - besiegt von einem Land mit mehr Vulkanen als professionellen Fußballspielern.

"Bis auf die letzten Minuten war ich nicht gestresst", sagte der überragende Ragnar Sigurdsson, und es war kein Kokettieren, das seiner Aussage zu Grunde lag. Der Innenverteidiger verdient sein Geld bei FK Krasnodar in der ersten russischen Liga. Seine Kollegen spielen in der Diaspora des europäischen Fußballs. In Norwegen, Schweden und Dänemark. Für Odense, Bodö Glimt, Sundsvall und den 1. FC Kaiserslautern. Kapitän Aron Gunnarsson und Johann Berg Gudmundsson haben es immerhin bis nach Großbritanien geschafft: zweite Liga in Cardiff und Charlton.

Und wieder flippt der TV-Kommentator aus

Nun tummelten sie sich alle vor und in der Fankurve. Hüpfend, singend, schreiend. Angefeuert und besungen von ihren aufgekratzten Fans. Einige Spieler sprangen die Tribüne hinauf und folgten damit der Eckfahne, die in einer Übersprunghandlung weggeworfen worden war. Andere lagen auf dem rasen, standen wieder auf, um sich kurz danach wieder hinzulegen. Alles kribbelte.

Die englischen Fans hatten bereits die letzten 15 Spielminuten stehend, die Hände in die Hüften gestemmt, verfolgt. Die Münder offen, die Augen weit aufgerissen. Auch wenn ihr aktueller Meister Leicester City heißt, konnten sie nicht glauben, was sie sahen. Doch das Unfassbare, es wurde von Minute zu Minute greifbarer.

Als sie das Stadion zehn Minuten nach dem Abpfiff geschockt verlassen hatten und ihr Trainer Roy Hodgson in den Katakomben seinen Rücktritt bekannt gab, wurde es nun auch im isländischen Block still. Beinahe andächtig wurde gemeinsam die Nationalhymne angestimmt. Ein Gänsehautmoment voller Gemeinschaftssinn und Dankbarkeit.

Es sind große Tage für die Insel, die am Sonntag einen neuen Präsidenten gewählt hatte und nun Fußballgeschichte schrieb. Im Viertelfinale wartet nun der Gastgeber. Sie haben es sich verdient. "Ich erwarte eine gute französische Mannschaft, ähnlich wie England", sagte Sigurdsson mit einem Augenzwinkern.

Das Schlusswort gehörte Hallgrimsson. Der Coach hatte nach einigen Minuten dann doch eine treffende Einordnung parat: "Wenn du das Beste im Leben willst, musst du bereit sein, wenn sich die Möglichkeit bietet. Das heute war ein Tag, über den wir bis zu unserem Lebensende sprechen werden."

Quelle : welt.de

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