In Caracas, der Hauptstadt mit der höchsten Mordrate weltweit, nehmen die sozialen Spannungen zu: Die Menschen sind angesichts des Mangels verzweifelt. Raub, Überfälle und Mord sind seit langem an der Tagesordnung. Die Zahl der Plünderungen und gewaltsamen Proteste ist in diesem Jahr extrem gestiegen.
Kinder und Erwachsene im Slum Petare von Caracas sitzen im Schneidersitz auf dem Boden, Augen geschlossen, Hände nach oben geöffnet: Die Yoga-Stunde beginnt mit dem Finden des gemeinsamen Tons. Die Erfahrung, die sie sonst teilen, ist Leben in extremer Armut - und Gewalt. In keiner Hauptstadt der Welt sterben mehr Menschen eines gewaltsamen Todes: Etwa 400 waren es allein im Juni.
Der Architekt Joel Valencia, ein junger Mann aus einem der besseren Viertel, veranstaltet die Yoga-Kurse in diesem Slum, in dem normalerweise keinerlei Hilfe ankommt. "Zweifelsohne hat die Feindseligkeit in diesem Viertel stark zugenommen", bemerkt Velencia. "Wir müssen leider feststellen, dass immer weniger Leute in die Kurse kommen können, weil sie damit beschäftigt sind, nach Grundnahrungsmitteln oder Medikamenten Schlange zu stehen - einfach nach allem, was sie in ihrem Leben dringend brauchen. Die Spannungen nehmen auch zu, weil es an Wasser mangelt."
Mit Yoga gegen Spannungen
Valencias Projekt "Yoga en el barrio" soll helfen, Spannungen abzubauen. Schon 5000 Menschen haben mitgeatmet und gedehnt, Kinder lenken sich dabei vom knurrenden Magen ab oder sind froh, für eine Stunde der Enge ihrer Behausungen zu entkommen. Gewaltprävention in Venezuela aber ist, wie einen Stein den Berg hinauf zu rollen.
Marco Antonio Ponce von der Beobachtungsstelle für Konflikte, einer Nichtregierungsorganisation, sieht einen drastischen Anstieg von Gewalt, der direkt mit dem Mangel zu tun hat: "Derzeit geht es bei 80 Prozent der Proteste um soziale Rechte", so Ponce. Er ergänzt: "Bei vielen Demonstrationen kommt es zu Vandalismus und Plünderungen. In den ersten fünf Monaten des Jahres gab es 254 Plünderungen und 640 Proteste gegen den Mangel an Grundnahrungsmitteln. Weil die Politik keine Antworten auf die Krise hat, wachsen die Spannungen. Ich fürchte, wenn die Regierung das Abwahlreferendum der Opposition gegen Präsident Maduro blockiert, dann wird noch mehr Gewalt ausbrechen."
18.000 Tote durch Gewalt - in einem Jahr
Noch mehr Gewalt - in dem Land, in dem im vergangenen Jahr nach offiziellen Angaben nur durch die gewöhnliche Gewalt, wie Raubüberfälle oder Mord, fast 18.000 Menschen ums Leben kamen. In Caracas starben im letzten Jahr 134 Polizisten. Viele erscheinen deshalb nicht mehr zur Arbeit. Für einen Hungerlohn wollen sie nicht ihr Leben riskieren.
David Sánchez arbeitete im Slum Petare als Polizist, viele seiner Kollegen starben dort. Er zeigt ihre Fotos, die er in seinem Telefon aufbewahrt: "Das ist schlimmer als im Krieg. Jede Woche stirbt ein Polizist. Deshalb habe ich meinen Dienst quittiert. Ich habe gerade mal den Mindestlohn verdient. Das Risiko war mir zu hoch. Ich wusste nie, ob ich heimkomme. Meine Mutter sagte immer, wenn ich zur Arbeit ging: Mögen dich hunderttausend Heilige schützen!"
Viele kleine Feuerherde könnten zum Flächenbrand werden
Der 33-Jährige hat einen Bauchschuss überlebt. Häufig seien die Kriminellen besser bewaffnet als die Polizisten. Sie erpressen und entführen, überfallen Lebensmitteltransporte. Bei Plünderungen wird es immer schwerer zwischen gewöhnlichen Kriminellen und Normalbürgern zu unterscheiden, zwischen Plünderung und Mundraub. Solche Gewalt bricht in Venezuela immer häufiger spontan aus. Viele kleine Feuerherde, die zu einem Flächenbrand werden könnten.
Quelle: tagesschau.de
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