Die gefährlichen Klischees zur Herkunft von Riaz A.

  21 Juli 2016    Gelesen: 1042
Die gefährlichen Klischees zur Herkunft von Riaz A.
Der Attentäter kam wohl aus der afghanisch-pakistanischen Grenzregion. Die Geschichte seiner Radikalisierung ist komplex – und Deutschland tiefer darin verwickelt, als vielen Politikern lieb ist.
Es ist ein Ratespiel, das mit einem Wort eine ganze Tragödie entschlüsseln will: "Faudsch". Auf Urdu, der Landessprache Pakistans, bedeutet das Armee. Auch die Paschtunen benutzen das Wort, jenes Volk, das den Hindukusch auf beiden Seiten der pakistanisch-afghanischen Grenze bevölkert und dem die meisten Taliban entstammen.

Doch auf der afghanischen Seite sagt man "Fauds", nicht "Faudsch", und der jugendliche Attentäter von Würzburg benutzt in seinem Bekennervideo eindeutig die in Pakistan geläufige Variante. Heißt das, der Angreifer war gar kein Afghane? Kein aus dem Bürgerkrieg geflohener Jugendlicher, sondern ein Pakistaner, der sich mit falschem Pass nach Deutschland gemogelt hat – womöglich nur mit dem Ziel zu töten?

Der Hinweis des Bundeskriminalamts, bei dem Angreifer könne es sich auch um einen Pakistaner gehandelt haben, scheint der Bluttat von Würzburg eine völlig andere politische Farbe zu geben. Es geht nicht mehr nur um die Radikalisierbarkeit von Flüchtlingen, sondern auch um die Kompetenz des deutschen Staates, echte von falschen und gefährliche von ehrlichen Migranten zu unterscheiden – scheinbar.

Riaz A. spricht Paschto

Denn in Wahrheit ist die Geschichte von Radikalisierung zwischen Afghanistan und Pakistan wesentlich komplexer, als man mit einem Wort allein erklären kann. Und Europa – allen voran Deutschland – ist viel tiefer in diese Geschichte verwickelt, als den meisten deutschen Politikern lieb ist. Das genau zeigen die Details des jungen Mannes in Würzburg.

Sicher ist: Riaz A. spricht in dem Video Paschto, die Sprache des zwischen beiden Ländern geteilten Volkes der Paschtunen. Pakistan oder Afghanistan – diese Wahl zwischen A und B würden viele Paschtunen nicht akzeptieren. Die Verwandtschaftslinien der Großfamilien verlaufen quer zu den Grenzen, die Biografien der Menschen ebenfalls. Das ist erst recht so, seit die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte und Millionen afghanische Paschtunen als Flüchtlinge nach Pakistan trieb. Einige kehrten nie zurück. Noch immer leben fast 1,6 Millionen Afghanen in pakistanischen Flüchtlingslagern. Viele haben beide Staatsbürgerschaften.

"Vor allem der Nachname, den der Attentäter angibt, wirkt eher afghanisch als pakistanisch", sagt Thomas Ruttig, Co-Direktor des Thinktanks Afghan Analysts Network in Kabul. "Sein Vokabular deutet zwar darauf hin, dass er zumindest eine Zeit lang in Pakistan gelebt hat, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit stammt er zumindest aus einer Familie, die ursprünglich von der afghanischen Seite der Grenze kommt. Mit dem Stammesnamen der Ahmadsai treten in Pakistan nur sehr wenige Paschtunen auf.

Taliban rekrutierten in pakistanischen Flüchtlingslagern

In Afghanistan ist das hingegen sehr üblich, etwa beim Präsidenten Aschraf Ghani, der selbst ein Ahmadsai ist." Als solcher machte Ghani auch in seiner Heimatprovinz Logar im Osten Afghanistans Wahlkampf. Hier oder in den Nachbarprovinzen Paktia und Nangarhar würde Ruttig, der Paschto schon an der Uni studiert und jahrelang in Afghanistan gelebt hat, auch die familiäre Herkunft des Attentäters von Würzburg vermuten. "Er könnte eine Zeit lang in Pakistan zur Schule gegangen oder sogar in einem pakistanischen Flüchtlingslager aufgewachsen sein. Aber seinen Ursprung dürfte er in Afghanistan gesehen haben."

Die Herkunft aus einem Flüchtlingslager könnte auch etwas über den Radikalisierungsweg des jungen Mannes aussagen. Die uferlosen Zeltstädte auf der pakistanischen Seite waren einst das wichtigste Rekrutierungsreservoir der Taliban. Hier wurden sie geboren. Ihre ersten Anhänger waren afghanische Jugendliche, die oft ohne Vater in zerrissenen Familienstrukturen aufwuchsen und im Exil in die Obhut von Religionsschulen kamen.

In den Medresen wurden sie von radikalen Predigern für den Dschihad ausgebildet, erst gegen die Sowjets, später gegen die siegreichen afghanischen Kriegsfürsten, die das Land nach dem Abzug der Russen 1988 in ein blutiges Chaos stürzten. Gegen sie bildete sich die Bewegung der Taliban, der "Schüler" aus den Koranschulen, die der Gesetzlosigkeit ab 1994 eiserne religiöse Regeln entgegensetzten – mit furchtbarem Erfolg.

In Afghanistan sucht der IS Jugendliche aus der Mittelschicht

"Die Radikalisierung in den pakistanischen Flüchtlingslagern funktioniert heute nicht mehr in dieser Weise", sagt Arschad Jusufsai. Der pakistanische Journalist hat jahrelang für Hilfsorganisationen mit den geflohenen Afghanen gearbeitet. Mittlerweile verfolgten die pakistanischen Sicherheitsbehörden die Vorgänge in den Religionsschulen und Moscheen viel genauer, sagt er. Aber der Würzburger Attentäter passt zu einer neuen Form des Extremismus, die Jusufsai auf beiden Seiten der Grenze wachsen sieht.

"Der IS bemüht sich hier und auch in Afghanistan, Anhänger zu rekrutieren. Erst in jüngster Zeit wurden in afghanischen Flüchtlingslagern auf der pakistanischen Seite Exemplare der IS-Broschüre `al-Fath`, der Sieg, verteilt." Aber anders als die Taliban habe es der IS nicht auf hilflose Koranschüler abgesehen, die oft nur wegen der kostenlosen Schulspeisung in die Lehre der Mullahs geschickt werden.

"Bei uns und in Afghanistan spricht der IS vor allem besser ausgebildete Jugendliche der Mittelschicht an. Zum einen haben die eher Zugang zu Computern und gelangen so eher an das umfangreiche Internetpropagandamaterial des IS. Zum anderen werden sie aber auch gezielt angesprochen. Das zeigt die jüngste Festnahme von 14 IS-Rekrutierern in den zentralpakistanischen Städten Sialkot und Lahore. Darunter fanden sich auch Uni-Absolventen und Dozenten."

IS greift sich orientierungslose Mittelschicht

Jusufsais Einschätzung enthält noch eine Fährte: Wie Ruttig tippt auch er auf die Provinzen Logar, Paktia oder Nangarhar als zumindest familiären Ursprungsort des Attentäters. In Nangarhar hat der IS zuletzt mehrere Distrikte zeitweise erobert. Auch in Afghanistan spricht die Miliz vor allem besser ausgebildete Jugendliche in den Städten an.

Viele von ihnen sind demoralisiert durch den mangelnden Fortschritt im Land. Nach dem Abzug der Nato-Kampftruppen Ende 2014 haben die Taliban so viel Gelände gewonnen, dass sie sich sogar interne Kämpfe leisten können. Das Land ist instabiler denn je, und im Machtvakuum findet der IS seine orientierungslosen Opfer.

"Wie ein armer Koranschüler wirkt der junge Mann in Würzburg nicht", sagt Jusufsai. "Dafür ist er zu gut genährt." Offenbar ist der Angreifer aus dem Regionalexpress ein Symbol für ein neues Problem: Afghanistans junge Mittelschicht, die nach dem Sturz der Taliban 2001 aufgebaut wurde, aber durch die nachlassenden Stabilisierungsbemühungen des Westens verloren geht. Dieses Problem bleibt nicht am Hindukusch.

Quelle : welt.de

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