Tuchel hat jede Menge Arbeit vor sich, bevor Ende August die neue Spielrunde in der Bundesliga angepfiffen wird. Bei keinem anderen Erstligaklub sind die personellen Veränderungen so umfassend wie beim Vizemeister. Die mehr als 100 Millionen Euro, die der BVB für seine Schlüsselspieler Mats Hummels (zu den Bayern), Ilkay Gündogan (zu Manchester City) und Henrikh Mkhitaryan (zu Manchester United) eingenommen hat, sind längst reinvestiert.
Rasant rotierendes Personalkarussell
Teilweise wurde den Beobachtern schwindelig, so rasant rotierte das Personalkarussell: Mikel Merino (CA Osasuna, Spanien), Marc Bartra (FC Barcelona, Spanien), Sebastin Rode (Bayern München), Ousmane Dembele (Stade Rennes, Frankreich), Raphael Guerreiro (FC Lorient, Frankreich), Emre Mor (FC Nordsjelland, Dänemark) und zuletzt die Königstransfers von Mario Götze (Bayern München) und André Schürrle (VfL Wolfsburg).
Alles in allem haben die Dortmunder damit also im Personalbereich weit über 200 Millionen Euro umgewälzt. Eine gigantische Summe, die man in Deutschland eigentlich nur dem FC Bayern zutraut. Wobei sich Einnahmen und Ausgaben die Waage halten (107 zu 119 Millionen). Auf Tuchel kommt damit eine Herkulesaufgabe zu: Er muss seine vielen, hochkarätigen Spieler zu einem Team formen, das die immensen Erwartungen auf den Rasen bringt. Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke spricht von einem "ambitionierten Unterfangen" und glaubt fest daran, dass sein Verein auf hohem Niveau wettbewerbsfähig ist: "Wir fühlen uns gerüstet mit dem Kader für die nächste Saison. Aber wir brauchen natürlich auch Geduld und gute Nerven, falls es am Anfang hakt."
Tatsächlich haben die Dortmunder ein Ensemble an Hochtalentierten zusammen, das es in der Vereinsgeschichte in dieser Breite selbst in Meisterjahren noch nicht gegeben hat. Mit Pierre-Emerick Aubameyang in der Spitze und dem Trio Marco Reus, Götze und Schürrle dahinter verfügt der BVB über eine Offensivabteilung, die sämtliche Fantasien der schwarz-gelben Fangemeinde beflügeln dürfte. Vier Spieler, die alles in sich vereinen, was der Vorstellung von Fußball entspricht, die Tuchel propagiert: Ballsicherheit, Kreativität, Dominanz und vor allem höchstes Tempo.
Der BVB wählt das große Risiko
Allerdings ist auch offensichtlich, dass der Dortmunder Kader in dieser Konstellation viele Unwägbarkeiten und Risiken in sich birgt: Mit Götze und Schürrle hat der BVB jene Profis geholt, die bei der EM im deutschen Kader als Verlierer schlechthin identifiziert wurden. Die Schaffenskrise von Schürrle dauert seit geraumer Zeit an. Götze stolperte in seinen drei Münchner Jahren von einem Tief ins nächste, auch wenn ihm - auf Flanke von Schürrle - das Tor gelang, das Deutschland 2014 in Brasilien zum Weltmeister machte.
Erschwerend kommt die inzwischen tausendfach ausgebreitete Vorgeschichte des Dortmunder Jungen dazu, dessen Wechsel zum Rivalen aus dem Süden im Revier als Hochverrat eingestuft wurde. Götze und Schürrle bewegen sich also auf dünnem Eis, bei Eingewöhnungsproblemen und entsprechenden Leistungen könnten die Ressentiments schnell in giftige Ablehnung umschlagen. Entsprechend moderierend geht Götze auf die Fans zu. Sein Anliegen hat er aus dem Urlaub, den er mit Kumpel Schürrle in Kalifornien verlebt, vorab schon mal schriftlich mitgeteilt. Er werde "versuchen, alle Menschen – gerade auch die, die mich nicht mit offenen Armen empfangen – durch Leistung zu überzeugen".
Doch Tuchel wird sich bei einem Kader von annähernd 30 Profis auch noch mit anderen Unwägbarkeiten beschäftigen müssen: Was wird aus gestandenen Spielern wie Shinji Kagawa und Gonzalo Castro, die ins zweite Glied zurückzufallen drohen? Wie groß sind die Perspektiven der mit vielen Vorschusslorbeeren bedachten Supertalente Merino, Dembele, Guerreiro und Mor? Vor allem bei Ousmane Dembélé, über den sie in Dortmund wahre Wunderdinge berichten, dürfte es spannend werden, zu beobachten, ob der 19-Jährige auf der Überholspur an den etablierten Stars vorbeiziehen wird.
Und was kann der Trainer seinen jungen Eigengewächsen Felix Passlack und Christian Pulisic bieten? Es scheint, als ob sich der Trainerstab des BVB in den kommenden Monaten mit einem ausgesprochen anspruchsvollen Puzzle beschäftigen muss: Woche für Woche aus einem Überangebot elf Akteure auszusuchen, die in der Startformation stehen dürfen. Wobei es drei Wettbewerbe (Bundesliga, Pokal und Champions League) erleichtern, die Einsatzzeiten so zu verteilen, dass keine Unzufriedenheit aufkommt. Es ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten, doch so viel zumindest ist schon mal sicher: Der BVB ist im Sommer 2016 das spannendste Projekt, das die Bundesliga derzeit zu bieten hat.
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