Wie immer hatte Al-Dachi an der Front auf den Anruf seines Schmugglers gewartet, der ihm seine jesidischen Landsleute aus dem Gebiet des IS heraus an die Front bringen sollte. Als der Anruf kommt, muss er schnell handeln. "Ich habe Angst", sagt der Araber am anderen Ende der Leitung. "Wenn ich weiterlaufe, schaffe ich es nicht in der Dunkelheit zurück. Es wären 20 Kilometer. Ich lasse sie hier. Ich bin fünf Kilometer vor der Front." Er legt auf.
Al-Dachi weiß, auf welchem Weg der Schmuggler kommen wollte, zusammen mit der 23-jährigen Schaima* und den zwei Mädchen, Narin* und Basma*, sechs und zwei Jahre alt. Er greift sich also eine Fackel und geht los, so erzählt er heute von jenem Abend, und so erinnern sich auch die Soldaten an der Front daran.
Al-Dachi ist ein jesidischer Rechtsanwalt, aber seine Arbeit ist mittlerweile eine andere. In den vergangenen Jahren hat er ein Netzwerk aus Informanten und Schmugglern aufgebaut und sichere Unterkünfte ausgekundschaftet, um den Islamisten ihre Gefangenen zu entreißen. Im August 2014 verschleppten Kämpfer des IS an die 7.000 Jesiden. 140 von ihnen, meistens Frauen und Mädchen, hat Al-Dachi seither retten können. Geiselnahme mag das Geschäft der Islamisten sein – die Geiselbefreiung ist seines.
Welche Schicksale mit den Entführungen der Islamisten verbunden sind, erfährt die weltweite Öffentlichkeit nur gelegentlich. Zuletzt Anfang Juni, als sie in Mossul 19 Jesidinnen in Metallkäfigen lebendig verbrannt haben sollen – so berichtete es die kurdische Nachrichtenagentur Ara. Die Frauen hatten sich dem Bericht nach zuvor geweigert, mit den IS-Kämpfern Sex zu haben.
Als der Schmuggler sie in jener Nacht im März im Gras zurücklässt, weiß Schaima nicht, wo genau sie ist. Das hohe Gras, in dem sie liegt, so berichtet sie, sei feucht und kalt gewesen. "Kein Wort dürft ihr sagen", sagt sie zu den Kindern, "sonst schlagen sie uns." Sie weiß, was sie ihr wirklich antun würden. Aber natürlich sagt sie es nicht. Wenn eine Jesidin flieht und erwischt wird, dann wird sie zur Strafe vergewaltigt. Von zehn bis fünfzehn Männern. Schaima hat die Flucht schon zweimal vorher gewagt – und wurde erwischt.
Schaima spürt das Atmen der Kinder, den Tau auf den Halmen. Sie liegt nur weinend da und denkt: "Das war es. So werden wir also sterben." Eine Stunde später leuchtet die Fackel auf, mit der Al-Dachi losmarschiert war. Sie ist keine 200 Meter entfernt. Das rote Licht des Feuers ist das wohl größte Risiko, das Al-Dachi eingehen kann, denn auch die Islamisten sehen es. Er hofft, dass die Kämpfer ruhig bleiben werden, solange das Kampfflugzeug der internationalen Koalition am Himmel seine Runden dreht.
Schaima läuft los, die Kleine auf dem Arm, die Größere an der Hand, bis Al-Dachi ihr die Kinder abnimmt. Zusammen eilen sie zurück in Richtung Front. In Sicherheit. Fast. Denn Al-Dachis Handy klingelt. "Bleib unten!", teilt ihm ein Peschmerga mit. Sie bleiben stehen. Legen sich ins Gras. Ein paar Minuten später explodiert ein Auto, von einer Rakete getroffen. Vielleicht einen Kilometer entfernt. Dann eilen sie weiter bis zu den Stellungen der Peschmerga. Schaimas Schwager steht dort, der Vater der beiden Kinder. Sie steigen in seinen weißen Toyota und fahren in Richtung der Provinzhauptstadt Dohuk, vorbei an zerstörten Dörfern und Städten, in denen Schafe grasen. Schaima weint den ganzen Weg über.
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