Was war da bloß los mit Mercedes? Der EQS entstammt noch einer Zeit, als Elektroautos irgendwie anders aussehen mussten als bis dahin konventionelle Verbrenner. Ein bisschen futuristisch und natürlich öko sollten batterieelektrische Fahrzeuge wirken, alternativ eben. Und so sieht letztlich auch der EQS aus. Die Frage ist, ob das zwingend schlimm sein muss. Klar, eingefleischte Fans der S-Klasse bekommst du nicht mit einem EQS, auch wenn die rundliche Limousine mit 5,22 Metern mehr als Gardemaß besitzt.
Doch warum nicht eine neue Klientel erschließen? Nämlich die, denen die Standard-S-Klasse zu feist, zu protzig ist. Hat im ersten Anlauf wohl nicht ganz geklappt, daher ist der jetzige EQS auch nicht mehr der von damals, aus dem Debütjahr 2021. Ich bin total ehrlich: Als das Auto auf den Markt kam, empfand ich das Adjektiv "gewöhnungbedürftig" ganz treffend. Spacig sah der EQS aus mit seinem schwarzen Paneel alias Grill, aber in der Tat nicht pompös. Ich fand nicht, dass er eine gleichwertige Alternative zur S-Klasse sein könnte, aber eine Ergänzung für die Modelllandschaft.
Ein Kassenschlager scheint der EQS nicht geworden zu sein, schnell steuerten die Untertürkheimer nach. Plötzlich gibt es auf Wunsch den klassischen Mercedes-Stern auf der Motorhaube als Kühlerfigur. Das Marketing sagt dazu "Electric Art Exterieur" - klingt einfach besser. Außerdem sind dann auch noch in das Paneel eingelassene Chromstreben zu sehen als stilisierter Kühlergrill. Hat was.
Und in der zweiten Reihe ist plötzlich eine Rückbank mit Einzelsitzcharakter verbaut samt elektrischer Verstellung. Dinge, die sich der EQS anfangs verkniff. Manufaktur Selection nennt sich das und kostet schlappe 16.000 Euro extra. Dann gesellen sich auch noch andere Accessoires hinzu wie entsprechende Alus und Dekor wie offenporiges Holz. Beim Testwagen mussten Klavierlackoberflächen den ästhetischen Ansprüchen genügen. Geht auch.
Riesenakku sorgt für Reichweite
Aber was steckt noch im EQS? ntv.de war hier und heute Effizienz wichtig, und darum sollte es der 450+ werden mit bloß einer angetriebenen Achse, und zwar die hintere. Ja, die dicke Limo kann auch richtig heftig, mit AMG-Label und Hunderten von PS. Nö, jetzt sollen es eher Hunderte von Kilometern an Reichweite sein. Und dazu braucht es jede Menge Akku. Da sind die Schwaben spendabel, geben dem Vierfuffzig satte 118 kWh mit auf den Weg, so viel hat fast kein Elektroauto. Und selbstbewusst nennen sie 816 Kilometer gemittelte WLTP-Reichweite. Kann man machen.
Bei der Elektromobilität klaffen Realität und Wunschdenken jedoch immer noch auseinander. Wenn der verwöhnte Dieselfahrer mit strammer Erwartungshaltung in seinen neuen Stromer steigt, wird er also enttäuscht. Sorry, aber 800 Kilometer sind echt nicht drin. Jedenfalls nicht, wenn du dich nicht hinter einen Laster klemmst und in dessen Windschatten mit 90 auf dem Tacho durch das Land schleichst. Dafür sind echte 600 Kilometer immer noch ein guter Kompromiss bei Tempomat 120 km/h. Auf den Hauptstrecken kommst du tagsüber sowieso selten schneller voran. Geht schon in Ordnung.
EQS ist hinreichend komfortabel
Und klar gilt der 450 auch mit seinen "mageren" 360 Elektro-Pferden immer noch als üppigst motorisiert. Der 2,5-Tonner prescht unter voller Last binnen 6,2 Sekunden auf 100 km/h und rennt 210 Sachen. Man kann schlechter unterwegs sein. Mit der adaptiven Luftfederung flauscht das ausladende Gefährt mit seinem fast noch ausladenderen Radstand (3,21 Meter) vielleicht einen Hauch weniger sanft als die S-Klasse über ausgeprägte Querfugen, aber eben immer noch sehr sanft. Darüber hinaus ist der Riesenbenz wendig wie ein Kleinwagen mit seiner Hinterachslenkung.
Trotzdem noch einmal die Frage: Was war da bloß los mit Mercedes? Warum habt ihr nur gekleckert und nicht geklotzt? Warum seid ihr die Elektromobilität so halbherzig angegangen bei gleichzeitiger Ankündigung, hier in die Vollen zu gehen? Rein elektrisch bis 2030 und so. Warum hat der große Benz kein Zweiganggetriebe? Wo ist das 800-Volt-Bordnetz beim EQS? Ja, der Akku ist schön groß, das ist ja auch fein. Aber in der Praxis dauert es eben auch mal 45 Minuten, bis 80 Prozent State of Charge wieder hergestellt sind - trotz 200 kW Peakladeleistung. Damit kann man irgendwie leben, aber - "das Beste oder nichts?", sagt Mercedes selbst. Merkt ihr, oder?
Luxuriös in der zweiten Reihe
Dennoch, der EQS 450+ ist schon ein sattes Auto. Er bietet Komfort, Platz und viel Spielwiese vorn. Der Hyperscreen (so heißt das Teil beim Daimler im Marketingsprech) stellt immer noch viele Infotainment-Systeme in den Schatten. Und es ist wirklich herrlich einfach zu bedienen, da gibt es nichts.
Auch in der hinteren Lounge findet der Passagier große Monitore, um sich die Zeit zu vertreiben, plus Bediener-Monitor. Und zwei anschmiegsame Kissen liefert der Hersteller gleich mit. Ist gemütlicher und sieht vor allem nobel aus. Als durchaus solide erweist sich auch die Ladeplanung. Neulinge mit der Angst, die nächste freie Ladesäule zu verpassen, führt der virtuelle Lotse zielsicher zum nächsten Ladepark. Außerdem funktioniert der Sprachassistent - perfekt wäre jetzt sicherlich übertrieben, aber: ziemlich gut. Überdurchschnittlich gut im Vergleich mit dem Wettbewerb definitiv.
Und obwohl es ein schwacher Trost ist: BMW hat bisher auch keine 800 Volt. Ich sehe das so - der EQS ist optisch der zurückhaltende Typ, eben ein richtiger Underdog. Und das hat ja durchaus auch seinen Reiz. Warum nicht Luxus im Stillen genießen, denn das elektrisch angetriebene Flaggschiff könnte vom Habitus auch locker ein Segment niedriger durchgehen. Für seinen Preis gilt das allerdings nicht. Unter 106.000 Euro geht nichts - das gilt auch für die Einsteigervariante. Und wenn es dann noch der Stern als Kühlerfigur sein muss - dafür berechnet der Hersteller keinen Extrabetrag.
Fazit: EQS kaufen oder nicht? Der lange Elektro-Liner hat so seine Nachteile, keine Frage. Doch um den berühmten Spruch einmal umzudrehen: Wo Schatten ist, da ist auch Licht. Gerade mit dem letzten Update ist der EQS gediegener geworden, wirklich deutlich feiner. Endlich gibt es auch in der zweiten Reihe den Luxus, den man in dieser Klasse erwartet, wenngleich nicht so üppig wie in der S-Klasse. Und der klassische Mercedes-Haubenstern in Verbindung mit einem elektrischen Antrieb ist doch auch irgendwie cool.
Hinzu kommt die Underdog-Komponente. Der EQS sieht einfach optisch nicht danach aus, was er in Wirklichkeit ist. Das ist eine reizende Kombination. Wer das mag, sollte beim V297 (so heißt der EQS intern) zuschlagen. Denn noch einmal wird Mercedes keine zwei Oberklasse-Baureihen - eine für Elektro- und eine andere für den Verbrennerantrieb - aufsetzen. Jede Wette, dass die nächste S-Klasse alle Varianten umfassen und daher S-Klasse pur sein wird. So richtig aus dem Vollen geschöpft eben. So gesehen ist der EQS der Letzte seiner Art.
Quelle: ntv.de
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