Schüler verklagen Lehrer wegen Freiheitsberaubung

  05 Auqust 2016    Gelesen: 348
Schüler verklagen Lehrer wegen Freiheitsberaubung
Was als Musikstunde begann, endete mit einem Notruf. Wann greift ein Lehrer in die Freiheitsrechte seiner Schüler ein? Ein Gericht beschäftigt sich nun mit dieser Frage.
Straf- oder Textarbeit, eine pädagogische Maßnahme oder aber Freiheitsberaubung? Das Amtsgericht in Neuss verhandelt einen Fall, der in der deutschen Bildungsgeschichte Seltenheitswert hat. Was dabei als normale Musikstunde begann, endete mit einem Notruf bei Polizei und Schulleiter – und seit dem heutigen Donnerstag vor Gericht.

Auf der Anklagebank sitzt ein Lehrer, der im April vergangenen Jahres in dem niederrheinischen Städtchen Kaarst die Klasse 6b der Realschule unterrichtete. Heute muss er sich wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung verantworten. Laut Staatsanwaltschaft hatte er den Schülern eine Strafarbeit auferlegt und wollte sie nicht gehen lassen, ehe sie die Aufgabe erledigt hätten. Als ein Junge trotzdem gehen wollte, soll der 50-Jährige dem Schüler in den Bauch gestoßen haben – der 13-Jährige habe danach über Schmerzen geklagt. So weit die Anklage.

Der Pädagoge schilderte den Vorfall vor Gericht so: In der Musikstunde sollte es an jenem Tag um den Geigenvirtuosen Paganini gehen. Eigentlich habe er den Kindern ein kurzes Hörspiel vorspielen wollen, aber die Schüler seien zu unruhig gewesen. "Deshalb habe ich mich entschlossen, den Unterricht in schriftlicher Form fortzuführen", sagte der 50-Jährige. "Das war keine Strafarbeit." Er habe den Schülern aufgetragen, einen Text über Paganini abzuschreiben.

Etwa zehn Minuten vor Unterrichtsschluss habe er sich demonstrativ mit seinem Stuhl in den Türrahmen gesetzt und die Schüler aufgefordert, sich in einer Reihe aufzustellen und ihm nacheinander ihre Arbeiten zu geben. "Das dauerte natürlich einige Minuten. Aber wer abgegeben hatte, durfte gehen." Ein Schüler habe sich vorgedrängt und gesagt, er müsse jetzt los. "Ich habe ihn weggeschoben, er sollte sich anstellen, wie die anderen", erzählte der Angeklagte und betonte: "Ich habe ihm nicht in den Magen geboxt." Ein anderer Junge rief mit dem Handy die Polizei – er musste nach Angaben des Lehrers länger dableiben, weil er Ordnungsdienst gehabt habe.

Dieser heute 14-jährige Junge stellte die Situation anders dar: "Die Schüler, deren Arbeiten unvollständig waren – so wie meine – durften nicht gehen", sagte er als Zeuge vor Gericht. Das Verhalten des Musiklehrers sei schon zuvor teilweise "furchterregend" gewesen – unter anderem habe er mit Schlagzeugstöcken laut auf den Tisch gehauen. Er habe gesehen, wie der Angeklagte seinen Freund "recht heftig" in den Bauch gestoßen habe, berichtete der Schüler. Ein anderer Junge relativierte das im Zeugenstand: Der Stoß sei von normaler Kraft gewesen – "nicht heftig und nicht leicht".

"Es sah aus wie ganz normaler Alltag"

Nach dem Notruf hatte die Polizei den Schulleiter alarmiert, der kurz vor den Beamten zum Klassenraum geeilt kam. Er habe das Schlimmste befürchtet, sagte der Rektor als Zeuge aus. "Als die Leitstelle anrief, hieß es, dass im Musikraum ein Lehrer Schüler eingeschlossen hätte und sie schlagen würde." Doch dort angekommen habe er eine vollkommen unaufgeregte Situation vorgefunden. "Es sah aus wie ganz normaler Alltag", sagte der 60-Jährige. Fast alle Schüler seien bereits weg gewesen.

Der Schüler, der angeblich gestoßen wurde, muss an einem anderen Verhandlungstag gehört werden. Am 24. August wird der Prozess fortgesetzt.
Ob dem Lehrer neben einer Verurteilung auch berufliche Konsequenzen drohen, ist unklar. Die Bezirksregierung prüft nach eigenen Angaben, ob sie ein Disziplinarverfahren einleitet. Dies hänge maßgeblich vom weiteren Verlauf des Strafverfahrens ab.

Lehrer darf "erzieherisch einwirken"

Prinzipiell gilt in Deutschland, dass Lehrer das Fehlverhalten von Schülern sanktionieren können, um ihrem Bildungsauftrag nachzukommen. Grundlage für "erzieherische Einwirkungen", die der Lehrer in eigener pädagogischer Verantwortung treffen darf, ist Paragraf 53 des Schulgesetzes für Nordrhein-Westfalen.

Absatz 2 listet als mögliche Maßnahmen, zum Beispiel Ermahnungen, Gruppengespräche, Briefe an die Eltern, den Ausschluss von der laufenden Unterrichtsstunde oder eben auch Nacharbeit unter Aufsicht auf. Über Letztere müssen aber zuvor die Eltern benachrichtigt werden. Bei allen Maßnahmen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Nur wenn erzieherische Einwirkungen nicht ausreichen, kommen Ordnungsmaßnahmen in Betracht. Diese können schlimmstenfalls bis zum Schulverweis führen.


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