Solche vorschnellen Erklärungen passen in 140-Zeichen-Tweets, verführen Bürger und Entscheidungsträger aber unglücklicherweise zu allzu schnellen Schlussfolgerungen. Die suggerierte Kausalität ist verlockend, aber im Gemenge der spärlichen Fakten und vielstimmigen Einschätzungen überaus gefährlich, da sie nicht nur ganze Personengruppen wie psychisch Erkrankte oder Flüchtlinge stigmatisiert, sondern auch eine dringend nötige Diskussion verhindert. Deren Ziel müsste sein, zukünftige Attentate unwahrscheinlicher zu machen.
Malek Bajbouj ist Psychiater, Psychotherapeut und Neurowissenschaftler an der Charité in Berlin. In Deutschland und Jordanien hat er Einrichtungen mit aufgebaut, in denen Flüchtlinge psychologisch versorgt werden.
Malek Bajbouj ist Psychiater, Psychotherapeut und Neurowissenschaftler an der Charité in Berlin. In Deutschland und Jordanien hat er Einrichtungen mit aufgebaut, in denen Flüchtlinge psychologisch versorgt werden. © FU Berlin
Dabei gibt es noch viel zu viele offene Fragen, die in Deutschland leider zu selten gestellt werden: Leiden Flüchtlinge wirklich häufiger an psychischen Erkrankungen oder sind sie besonders resilient? Welche psychischen Erkrankungen liegen bei den Flüchtlingen überhaupt vor? Verhindern psychische Erkrankungen Attentate oder stellen Sie umgekehrt einen Risikofaktor dar? Spielt in diesem Zusammenhang die Religion, der Islam, überhaupt eine relevante Rolle? Und nicht zuletzt: Welche psychischen Einflussgrößen initiieren oder erhalten den teuflischen Prozess aufrecht, in dessen Verlauf Flüchtlinge sich solch radikalen Überzeugungen zu eigen machen, die am Ende in einer enthemmten Gewaltbereitschaft münden? Oder kurz: Warum radikalisieren Attentäter?
Um diese Frage zu beantworten, müssen drei Ebenen beleuchtet werden: die Persönlichkeit des Attentäters, seine Erfahrungen und seine (virtuelle) Umgebung. Verstehen wir diese drei eng verwobenen Ebenen besser, so lassen sich leichter, effektiver und sinnvoller präventive Maßnahmen jenseits von reflexartigen Waffen- und Migrationsverboten einleiten:
1. Persönlichkeitsmuster
Vorab: Es gibt keine einheitliche Persönlichkeitssignatur, die eine Radikalisierung begünstigt. Allerdings sind häufig Muster beschrieben worden, die einen aufhorchen lassen können. So zeigten in einer israelischen Studie (Terrorism and Political Violence: Merari et al., 2008), in der verhinderte Selbstmordattentäter befragt wurden, zwei Drittel der Befragten einen ängstlich-unsicheren und ein Drittel einen impulsiven, teils narzisstischen Persönlichkeitstypus. Fast jeder Zweite der Befragten zeigte persistierende Suizidgedanken.
Diese Symptome und Persönlichkeitseigenschaften führen im ungünstigsten Fall besonders in Zeiten dramatischen sozioökonomischen Wandels bei Menschen in eine Situation, die der Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim 1897 als Anomie bezeichnete: ein Zustand, in dem Menschen sich in einem Dauermodus der Enttäuschung und moralischen Deregulierung befinden, die dann in der anomischen Selbsttötung mündet. Eine Beschreibung, die für Attentäter, die ihren eigenen Tod mit dem von Unschuldigen auf fatale Weise verknüpfen, noch immer ungemein passend erscheint.
2. Traumatisierende Erfahrungen
Viele der Flüchtlinge berichten von besonderen Lebensereignissen, haben Gewalt in Kriegsgebieten hautnah erlebt. Von US-amerikanischen Soldaten, die nach Einsätzen in Afghanistan und dem Irak in ihre Heimat zurückkehrten, weiß man (The British Journal of Psychiatry: Elbogen et al., 2014), dass sich das Erleben von Gewalt während des Einsatzes oder das Vorliegen von psychischen Störungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) nicht wesentlich auf die Gewaltschwelle der Veteranen auswirkte.
Allerdings: Treten Gewaltexposition und PTSD gemeinsam mit einer prädisponierten Persönlichkeit, einer wirtschaftlichen Ungewissheit oder Suchterkrankungen auf, so potenziert sich das Risiko für Gewalttaten auf das bis zu Zehnfache. Viele der Flüchtlinge haben Vergleichbares erlebt. Ob solche Befunde von Soldaten auf Flüchtlinge übertragbar sind, ist unklar, da gegenwärtig leider jegliche systematische Untersuchung fehlt.
3. Erlernte Radikalität
Menschen in ausweglos erscheinenden Situationen sind besonders empfänglich für Lernmodelle, die radikale Lösungen wie Selbstmordattentate und Amokläufe vorschlagen. Im Tunnelblick der Täter bietet das Informationsüberangebot der sozialen Medien gleichermaßen Bestätigung für empfundene Ungerechtigkeiten als auch Blaupausen für erweiterte Suizide, von denen von einschlägigen islamistischen Kreisen ganz bewusst der Eindruck vermittelt wird, dass sie innerhalb eines islamischen Wertesystems sozial akzeptabel seien. Entsprechend veranlagten Tätern bieten darüber hinaus unverpixelt in Dauerschleifen laufende Bekennervideos zusätzliche narzisstische Motivation, den Weg des Selbstmordattentäters zu gehen.
Menschen, die sich und andere gefährden, radikalisieren sich in der Regel nicht blitzartig und unsichtbar. Häufig hinterlassen sie im Vorfeld sichtbare Spuren bei Sozialarbeitern, in Behörden und häufig auch in psychologischen Sprechstunden. Das Wissen um gefährdete Persönlichkeiten, kritische Lebensereignisse in deren Biographien und das Wissen um die Empfänglichkeit für letale Lernmodelle wird zukünftig zwar nicht alle Attentate verhindern, stellt aber die Basis dar, um jetzt dringend notwendige Interventionen auf den Weg zu bringen, die das Potenzial haben, Radikalisierungsprozesse frühzeitig zu erkennen und zu verhindern.
Auch müssen wir uns in diesem Zusammenhang eingestehen, dass wir vieles noch nicht wissen. Dieses Wissen rasch zu erwerben, um schnell notwendige Maßnahmen einzuleiten, ist eine der zentralen Forderungen, die man heute an die Politik stellen muss. Dabei spielt die häufig diskutierte psychiatrische Erkrankung als Ursache für Gewalttaten aus meiner Sicht sicher keine Hauptrolle, denn deren Vorliegen erklärt in der Regel nicht, warum aus Menschen Attentäter werden.
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