Samstagabend in der türkischen Millionenmetropole Gaziantep, nahe der syrischen Grenze. Im Beybahce-Viertel, wo vor allem Kurden wohnen, wird Hochzeit gefeiert. Unter die zahlreichen Gäste mischt sich mutmaßlich ein Selbstmordattentäter. Er bleibt unerkannt – und zündet einen Sprengsatz. Hunderte Einwohner versammeln sich unmittelbar nach der Explosion in der Nähe des Tatorts. "Allah ist groß", rufen sie immer wieder.
Ministerpräsident Binali Yildirim sagte, die Attacke habe "eine Hochzeitsfeier zu einem Ort der Trauer gemacht". "Das ist ein Massaker beispielloser Grausamkeit und Rohheit", erklärte sein Stellvertreter Mehmet Simsek, der aus der Region stammt. Später macht Präsident Recep Tayyip Erdogan die Terrormiliz Islamischer Staat für den Angriff verantwortlich. Der Attentäter sei zwischen zwölf und 14 Jahre alt gewesen.
Solidarität aus Moskau und Brüssel
Der Kreml sprach von einem brutalen und zynischen Angriff. Russlands Präsident Wladimir Putin rief zu einem gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus auf. "Wir haben einmal mehr erfahren, dass der Terrorismus nicht nur die Gesetze zivilisierter Gesellschaften nicht anerkennt, sondern auch die grundlegenden Normen der menschlichen Moral missachtet", schrieb Putin.
Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn verurteilten den Anschlag scharf. "Als Europäische Union wollen wir unsere Solidarität und Sympathie mit der Regierung und dem Volk von Gaziantep und der ganzen Türkei ausdrücken. Und wir werden damit fortfahren, unsere Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden zu stärken, um den Terrorismus zu verhindern und zu bekämpfen. Wir stehen alle zusammen in einem gemeinsamen Kampf", schrieben die EU-Vertreter in einer gemeinsamen Erklärung.
Die türkische Regierung hatte der EU zuletzt fehlende Solidarität vorgehalten, vor allem nach dem gescheiterten Putsch im Juli. Am Wochenende hatte Ankara Brüssel zudem erneut vorgeworfen, sich an die im sogenannten Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei gemachten Zusagen nicht zu halten: "Es kann nicht die ganze Zeit `ich, ich` sein. Es muss ausgewogener sein", sagte Regierungschef Yildrim.
IS, Gülen, YPG?
Aber wer sind die Drahtzieher des Anschlags von Gaziantep? Bisher gibt es darüber nur Vermutungen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan teilte mit, "der wahrscheinlichste Täter des Angriffs von Gaziantep" sei der Islamische Staat (IS). Er fügte hinzu, es gebe absolut keinen Unterschied zwischen dem IS, den kurdischen Rebellen und der Bewegung des in den USA im Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen, den Ankara als Drahtzieher des Putschversuchs Mitte Juli sieht.
Der aus Gaziantep stammende AKP-Abgeordnete Mehmet Erdogan zeigte sich zurückhaltender als der türkische Präsident. Er sagte, für das Attentat seien möglichweise der IS oder kurdische Rebellen verantwortlich. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP erklärte: "Wir verurteilen und verdammen diejenigen, die diese Attacke verübt haben, und die Kräfte und Ideologien hinter ihrem Handeln". Laut HDP handelte es sich bei dem Anschlag um eine kurdische Hochzeit.
Sowohl der IS als auch die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) – der syrische Ableger der PKK, die in der Südosttürkei operiert – kontrollieren große Gebiete in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei. Die YPG, die ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS ist, waren in den letzten Wochen weiter vorgerückt. IS- Kämpfer mussten sich in das syrisch-türkische Grenzgebiet zurückziehen. Ein weiteres Vorrücken der YPG will die Türkei mit allen Mitteln verhindern. Ankara fürchtet, dass damit Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden im eigenen Land befeuert werden könnten.
Ministerpräsident Yildrim begrüßte darum indirekt Angriffe der syrischen Luftwaffe auf Stellungen der kurdischen Miliz YPG um die Stadt Hasaka. "Es ist klar, dass das (syrische) Regime verstanden hat, dass die Struktur, welche die Kurden im Norden zu bilden versuchen, auch für Syrien eine Bedrohung zu werden beginnt", sagte Yildrim.
Zuvor hatte die US-Luftwaffe mit eigenen Kampfflugzeugen interveniert, um die an der Seite der YPG eingesetzten US-Militärberater zu schützen. Zugleich warnte Washington die Regierung von Machthaber Baschar al-Assad, dass man Angriffe auf die verbündeten kurdischen Milizen nicht hinnehmen werde. Die syrische Regierung zeigte sich unbeeindruckt: Die Bombardierung Hasakas ging am Wochenende weiter. Den syrischen Angriffen auf die Kurden ging eine politische und militärische Annäherung der Türkei mit Russland voraus, das Assad unterstützt.
Größeres Engagement der Türkei
In diesem Zusammenhang dürften auch neue Töne aus Ankara stehen. Man würde Assad in einer Übergangsphase des Landes akzeptieren, erklärte Yildrim. Er sei ein "Akteur" des Konflikts, mit ihm müsse gesprochen werden, "ob wir es wollen oder nicht". Langfristig sei Assad aber nicht haltbar: "Könnte Syrien Assad langfristig tragen? Sicherlich nicht", betonte Yildrim vor ausländischen Journalisten in Istanbul. "Die USA und Russland", fügte er hinzu, "wissen, dass Assad keiner ist, der die Menschen zusammen bringen kann".
Seit Beginn des Konflikts in Syrien vor fünf Jahren hatte die türkische Regierung zuvor auf den Sturz des syrischen Präsidenten gedrängt und eine Reihe von Rebellengruppen, darunter radikale Islamisten, mit Geld und Waffen unterstützt. Die Wiederannäherung an Moskau, die Erfolge der YPG und der mangelnde Erfolg der Rebellengruppen haben Ankara offensichtlich zu einem taktischen Umdenken bewogen. Dazu gehört auch, dass die Türkei laut Yildrim in den kommenden Monaten eine "aktivere" Rolle spielen will. Damit solle eine Spaltung des Landes entlang ethnischer Grenzen verhindert werden.
Wie das künftige Engagement der Türkei genau aussieht, ist unklar. Die Situation in Syrien ist so kompliziert und verfahren, dass eine Unterstützung des Erzfeindes Assad im Kampf gegen die Kurden im Norden Syriens alles andere als ausgeschlossen ist. Dies würde allerdings das Verhältnis zwischen Ankara und Washington weiter belasten.
Yildrin machte klar, dass die USA trotz des angespannten Verhältnisses "unser strategischer Partner, nicht unser Feind" seien. "Es kann Höhen und Tiefen zwischen zwei Ländern geben", so Yildrin. Seit dem gescheiterten Putsch ist die Haltung der Türken gegenüber den USA so feindlich wie lange nicht mehr. Washington hat sich bisher geweigert , den seit 1999 in den USA lebenden Geistlichen Gülen – den Ankara als Drahtzieher des Putsches vermutet – auszuliefern. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag warnte die amerikanische Regierung, sollte sie Gülen nicht wie gefordert ausliefern, werde die "anti-amerikanische Stimmung" in der Bevölkerung in "Hass" umschlagen. Das Thema dürfte auch im Mittelpunkt der Gespräche mit US-Vizepräsident Joe Biden stehen, der diese Woche Ankara besucht.
Quelle : welt.de
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