Sie stammen vom Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts, und wer um die Seltenheit von Zeichnungen aus dieser Epoche weiß, wird die Sensation zumindest erahnen, die dieses Stundenbuch darstellt. Das taten auch etliche Kenner, als das Buch nach der Wiederentdeckung durch die Castelnaus im Dezember 2013 auf einer Internetauktion angeboten wurde. In einem Bietergefecht, an dem auch das Getty-Museum beteiligt war, wurde der Preis auf 2,5Millionen Euro getrieben. Und da wusste noch niemand, von wem die Zeichnungen eigentlich sind.
Es sind keine Illuminationen, also Buchmalereien, sondern allerfeinst ausgeführte Tintenzeichnungen. Vor allem die Architekturelemente sind angesichts der winzigen Fläche von einer solchen Akribie, dass sie als bloße Unterzeichnungen für eine spätere Illuminierungskampagne kaum denkbar sind. Tatsächlich gab es seinerzeit das Genre des portrait d’encre, der Zeichnung als vollwertigen Kunstwerks. Viel spricht dafür, dass die Bilder dieses Buchs nie ausgemalt worden wären.
Die Mona Lisa der Buchmalerei
Allerdings ist es auch nicht fertig geworden: Bei der prachtvollsten Miniatur darin, der Verkündigung an Maria, sind die Figuren der Jungfrau und des Engels lediglich skizziert, während der sie umgebende Architekturrahmen vollständig ausgeführt und von einer Qualität ist, wie man sie sonst aus dieser Zeit kaum kennt. Wie damals üblich, sollten um die Bilddarstellungen aufwendig ornamentierte Bordüren mit Pflanzen- und Tierdarstellungen gemalt werden, und auf einigen Seiten geschah das auch, doch viele bieten nur Vorzeichnungen dafür oder blieben am Rand gar ganz leer. Warum das so ist, hat sich als der Schlüssel für die nunmehrige Zuschreibung der Zeichnungen erwiesen.
Sie stammen mit größter Wahrscheinlichkeit von einem der drei Brüder Limburg, deren Geburtsdaten unbekannt sind, die aber alle drei wohl erst zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig waren, als sie 1416 in Paris an der Pest starben. Damals standen sie im Dienst des Herzogs von Berry, des Onkels des französischen Königs KarlVI. In dessen Herrschaftszeit fällt der „Weiche Stil“, jener Übergang von Gotik zu Renaissance, der erst im neunzehnten Jahrhundert in seiner Bedeutung erkannt wurde, während man vorher in Frankreich durchaus pejorativ von den „primitifs“ gesprochen hatte.
Seitdem aber sieht man darin die Keimzelle einer eigenständigen nordeuropäischen Kunst, und in den Limburgs erkannte man die zentralen Vermittler italienischer Motive und Techniken an die eine Generation später wirkenden Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden. Als Prunkstück des Schaffens der Brüder gelten die für den Herzog von Berry angefertigten „Très Riches Heures“, ein Stundenbuch, das heute im Schloss von Chantilly aufbewahrt wird. Es ist so etwas wie die Mona Lisa der Buchmalerei.
Letztgültige Klarheit wird es kaum geben
Bislang waren überhaupt nur drei Bücher bekannt, an denen die Limburgs sicher beteiligt waren: Neben den „Très Riches Heures“, über deren Fertigstellung sie starben, sind das noch die um 1408 vollendeten, ebenfalls für den Herzog illuminierten „Belles Heures“ (heute in New York) und die „Bible moralisée“ von 1404 für den Burgunderherzog Philipp den Kühnen (in der französischen Nationalbibliothek). Die Zuschreibung eines vierten, zudem ästhetisch so ungewöhnlichen Buchs – nur in der „Bible moralisée“ findet sich noch ein portrait d’encre der Brüder, was aber auch belegt, dass sie diese Darstellungsweise benutzten – wäre ein kunsthistorischer Paukenschlag. Deshalb wird sich am kommenden Montag in Nimwegen an die nur zwei Tage währende Präsentation des Buchs im Museum het Valkhof ein wissenschaftliches Symposion anschließen, auf dem der deutsche Kunsthistoriker Eberhard König seine Zuschreibung vorstellt und zur Diskussion stellt.
König, bis 2012 Ordinarius an der Freien Universität Berlin und einer der weltweit besten Kenner mittelalterlicher Kunst im Allgemeinen und der Buchmalerei im Speziellen, hat im Auftrag des in der Schweiz lebenden Heribert Tenschert das von diesem für sein Antiquariat Bibermühle ersteigerte Stundenbuch untersucht und analysiert. Letztgültige Klarheit kann es für die Werke einer Epoche kaum geben, in der Künstler ihre Werke noch nicht signierten und beim Malen auf ältere Vorlagen zurückgriffen, weshalb bestimme Bildlösungen sich wiederholen. Die Herausforderung bei Zuschreibungen liegt in der Identifikation besonders früher Adaptionen und natürlich individueller künstlerischer Qualität.
Ein missing link der Kunstgeschichte
König kann durch geradezu kriminalistische Sorgfalt in einem erzählerischen Bravourstück die Entstehung des neu entdeckten Manuskripts parallel zur Arbeit der Limburgs an den „Belles Heures“ glaubhaft machen, als wahrscheinlichsten Zeichner nennt er den ältesten Bruder Paul. Die Indizienkette, die er dazu in einem eigens für das Manuskript verfassten, umfangreichen Katalog schmiedet, scheint lückenlos. Als Auftraggeber für das Buch identifiziert er natürlich den Herzog von Berry – nicht nur, weil die Limburgs seit 1404 von ihm beschäftigt wurden, sondern auch, weil ein Mitglied der Familie Castelnau hundert Jahre später im Dienst der Nachfahren des Herzogs stand. So könnte das Buch in den Besitz der Castelnaus gekommen sein.
Gedacht war es aber nicht für den Herzog von Berry selbst, dann hätte seiner Vollendung nichts im Wege gestanden. In den für die kunsthistorische Rezeption der Limburgs so wichtigen und im neuen Manuskript besonders zahlreich nachweisbaren italienischen Einflüssen erkennt König einen Hinweis auf denjenigen, für den das Buch gedacht gewesen sein könnte: den französischen Thronfolger Ludwig von Orléans, der 1407 ermordet wurde und mit der italienischen Prinzessin Valentina Visconti verheiratet war, die ihrerseits 1408 starb. Durch den Tod beider Eheleute hätte das Buch seine Bestimmung eingebüßt, so dass der Herzog die Arbeit daran nicht mehr weiterführen ließ. Nicht fertiggestellte Bücher aber bewahrte man seinerzeit; sie waren immer noch kostbar. Und es ging ja um sakrale Texte.
Warum aber ist das Buch am kommenden Wochenende ausgerechnet in Nimwegen zu sehen? Die Stadt im alten Herzogtum Geldern war der Geburtsort der Brüder Limburg, und der niederländische Staat hat, wie Heribert Tenschert dieser Zeitung sagte, um ein paar Monate Zeit gebeten, um zu prüfen, ob es nicht möglich wäre, das Manuskript für die Niederlande zu sichern. Zwölf Millionen Euro soll es nach der Zuschreibung nun kosten; viel Geld für die öffentliche Hand, nicht viel, wenn man bedenkt, was für Gegenwartskunst bezahlt wird und dass man es hier mit einem missing link der Kunstgeschichte zu tun hat. Man hofft in unserem Nachbarland auf private Hilfe, um den Erwerb zu ermöglichen. Eben um zu zeigen, was man damit bekäme, wird es in Nimwegen ausgestellt – parallel zum jährlichen Mittelalterfestival, das die Stadt diesmal ihren bedeutendsten Söhnen zu deren sechshundertstem Todesjahr ausrichtet.
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