Darum sind die Franzosen gegen Burka und Burkini

  01 September 2016    Gelesen: 516
Darum sind die Franzosen gegen Burka und Burkini
Die negativen Reaktionen auf den Umgang Frankreichs mit Burka und Burkini verwundern uns nicht. Aber unsere Freiheit steht auf dem Spiel. Es geht um Laizismus und Feminismus. Daher bleiben wir hart.
Viele westliche Medien standen dem französischen Gesetz von 2010, das Gesichtsverschleierungen und Burkas verbietet, die zusätzlich zum Gesicht auch noch den Körper der Frau verhüllen, sehr kritisch gegenüber.

Und auch über die lokalen Verordnungen dieses Jahres, mit denen die den ganzen Körper bedeckenden Burkinis verboten werden, wurde negativ berichtet. Eine negative Einstellung der Presse gegenüber Frankreich ist nichts Neues, aber die Kritiker dieser Maßnahmen ignorieren die historischen und soziopolitischen Gründe dafür, warum sie von den meisten Franzosen unterstützt werden.

Säkularimus entscheidendes Prinzip

Zunächst einmal ist der Säkularismus – oder laïcité – ein entscheidendes Prinzip der französischen Gesellschaft. Laut der französischen Verfassung – in der Gewissensfreiheit und Redefreiheit ganz oben stehen – kann sich jeder Bürger für jede Religion entscheiden, oder auch für keine von ihnen. Gleichzeitig steht es allen frei, den Glauben und die Sitten jeglicher Religion zu kritisieren oder zu verspotten.

2004 hat der Französische Verfassungsrat festgestellt, dass die französische Verfassung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Einklang steht. Um "das Prinzip der Religionsfreiheit mit dem des Säkularismus in Einklang zu bringen", stellte der Rat klar, dass die Verfassung "Personen verbietet, sich deshalb zu einem religiösen Glauben zu bekennen, um den allgemeinen Regeln zuwiderzuhandeln, die das Verhältnis zwischen der öffentlichen Gemeinschaft und den Privatpersonen bestimmen".

In Frankreich scheint dieses Prinzip durch die jüngsten Ereignisse direkt herausgefordert zu werden. 1765 schrieb Voltaire, der agnostische Philosoph der französischen Aufklärung: "Diejenigen, die dich dazu bringen können, Absurditäten zu glauben, können dich auch dazu bringen, Gräueltaten zu begehen."

Die Zeichner und Journalisten von Charlie Hebdo, die im Januar 2015 von zwei islamistischen Radikalen ermordet wurden, hielten die von Voltaire mitbegründete Tradition der Erleuchtung hoch, und dieser Anschlag hatte auf die typisch französische Form von Redefreiheit einen abschreckenden Effekt.

Gegen Charlie Hebdo gehen immer noch Morddrohungen ein, und die jüngsten von ihnen aufgrund von Zeichnungen zur Burkini-Debatte.

Feminismus im Widerspruch zum Islam

Neben dem französischen Säkularismus ist auch der Feminismus in der Verfassung verankert. Seit 1999 ist in Artikel eins in allen französischen Entscheidungsgremien ein Frauenanteil vorgeschrieben, von der Nationalversammlung über lokale Regierungsbehörden bis hin zu Vorständen usw.

Auch wenn die sprichwörtliche Gläserne Decke noch nicht völlig zerschlagen ist, gibt es in Frankreich heute doch mehr Frauen in hohen Führungspositionen als jemals zuvor.

Wie der Säkularismus steht auch diese institutionalisierte Geschlechtergleichheit im Widerspruch zum konservativen Islam, der sich oft für zurückhaltende Kleidung in Krankenhäusern, Schwimmbädern und Fahrschulen einsetzt.

Und in vielen muslimischen Gemeinden Frankreichs haben konservative Imame mehr Einfluss auf den Status der Frauen als Schullehrer oder andere örtliche Akteure.

Angesichts Frankreichs starker Kultur des Feminismus halten viele französische Bürger Geschlechtertrennung und Gesichtsverschleierung für repressiv, sogar wenn sich die Frauen angeblich selbst dafür entscheiden.

Einwanderer hinterfragen Prinzipien des Landes

Frankreich war traditionell sehr offen gegenüber Einwanderern, insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen, aber das Land war noch nie zuvor mit Einstellungen und Verhaltensweisen konfrontiert, die seine Verfassungsprinzipien nicht nur verletzen, sondern sie sogar offen ablehnen.

Das französische Gesetz verbietet die Erfassung von Daten über ethnische oder religiöse Zugehörigkeit, aber es wird geschätzt, dass etwa 8–9 Prozent der 66 Millionen Einwohner Muslime sind – was gemeinsam mit Deutschland dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil in Europa entspricht – und schätzungsweise die Hälfte von ihnen ist jünger als 24 Jahre.

Die meisten französischen Muslime sind keine Neuankömmlinge, sondern kamen während der algerischen, marokkanischen und tunesischen Unabhängigkeitsbewegungen der 1960er ins Land, was bedeutet, dass die heutigen jungen Muslime die dritte Generation dieser Einwanderungswelle darstellen.

Einige waren sehr erfolgreich, insbesondere die jungen Frauen, die sich in einem immer stärker von Wettbewerb geprägten Arbeitsmarkt bewährt haben.

Viele junge Muslime sind allerdings frustriert über ihre Lebensbedingungen und fühlen sich von dem französischen Gleichheitsversprechen betrogen, was sie dazu bringt, die Prinzipien des Landes zu hinterfragen und herauszufordern.

Als demografische Gruppe spüren sie die Last der grassierenden Arbeitslosigkeit, die unter jungen Menschen durchschnittlich 25 Prozent beträgt. In den banlieues, den Wohnsiedlungen rund um viele französische Großstädte, wo ein Großteil der muslimischen Familien leben, liegt die Quote sogar bei 40 Prozent.

Ein kollektives Trauma

Seit Jahrzehnten versucht die französische Regierung bereits, das Problem damit zu übertünchen, dass sie Milliarden von Euro in sogenannte städtische Maßnahmenprojekte steckt, um marode Wohnsiedlungen zu sanieren.

Aber die entsetzlichen Verbrechen, die in Frankreich in den letzten zwei Jahren von desillusionierten und radikalisierten jungen Muslimen verübt wurden, können nicht übertüncht werden.

Die Liste ist alarmierend: Nach den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" und einen koscheren Lebensmittelladen im Januar 2015 folgte der Massenmord am Bataclan-Theater und an anderen Pariser Orten im November 2015; der Lastwagenanschlag an der Promenade des Anglais in Nizza in diesem Sommer; der Mord in einer katholischen Kirche an einem beliebten Priester, dem während der Messe die Kehle durchgeschnitten wurde; der Anschlag auf ein Privathaus in der Nähe von Paris, wo zwei miteinander verheiratete Polizisten vor den Augen ihres Kindes ermordet wurden; und die Messerattacke auf einen jüdischen Mann in Straßburg in diesem Monat.

Diese Ereignisse verstärken die populistischen Bewegungen in Frankreich und ganz Europa. In Frankreich selbst werden solche Anschläge dazu verwendet, die muslimfeindliche Rhetorik von Politikern wie Marine Le Pen zu rechtfertigen, der Parteichefin des rechtsextremen Front National, die bei der Präsidentenwahl im nächsten Jahr die zweite Runde erreichen könnte.

Vor diesem Hintergrund eines kollektiven Traumas glauben viele französische Bürger, das Überleben der Republik selbst stehe auf dem Spiel. Und sie sehen nicht ein, warum der Pluralismus und die Toleranz, die für Frankreich so typisch sind, zu Mitteln der Zerstörung des Landes werden sollten.

Quelle : welt.de

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