Der Staat, den es nicht gibt

  28 Oktober 2015    Gelesen: 822
Der Staat, den es nicht gibt
Die Balkanroute ist schwer zu kontrollieren? Viel unberechenbarer ist die Fluchtroute über Libyen. Dort hat die EU nicht mal mehr Ansprechpartner.
Mehr als ein Jahr lang rackerte sich der UN-Sonderbeauftragte Bernardino Leon ab, den libyschen Bürgerkrieg zu beenden. Das sei die "letzte Chance, um Libyen zu retten", warnte der 51-jährige Diplomat, als er am 8. Oktober im marokkanischen Skhirat schließlich seinen Plan bekannt gab. Drei Wochen später liegen sämtliche Mühen um eine Regierung der Nationalen Einheit in Trümmern. Zunächst verwarf die islamistische Gegenregierung in Tripolis seinen Vorschlag, jetzt winkte auch das international anerkannte Parlament in Tobruk ab.

Für Libyen und auch für Europa sind das katastrophale Nachrichten. Denn während Brüssel derzeit voll mit der Balkanroute der Flüchtlinge beschäftigt ist, kündigt sich nun für den anderen großen Flüchtlingskorridor, den Weg über das Mittelmeer nach Italien, für die kommenden Monate neues Unheil an.

Nach dem Scheitern Leons, der demnächst von dem deutschen Diplomaten Martin Kobler abgelöst wird, ist der endgültige Staatszerfall Libyens wohl nicht mehr aufzuhalten. Der Ölexport, die Haupteinnahmequelle des Landes, ist zu drei Vierteln eingebrochen, die Wirtschaft liegt am Boden, Stromausfälle gehören zum Alltag. Städte wie Bengasi sind praktisch total zerstört. Eine Million Libyer, vor allem die Wohlhabenderen, sind bereits nach Tunesien oder Ägypten geflohen, wo sie sich meist in leerstehenden Touristen-Apartments eingemietet haben.

Nach Ende der Winterstürme könnten nun weitere Hunderttausende auf die Boote nach Lampedusa gehen und so das Mittelmeer erneut zum Hauptschauplatz der nahöstlichen Völkerwanderung gen Norden machen. Denn das libysche Machtvakuum beschert Schmugglern, bewaffneten Milizen und Terroristen freie Hand.
Der "Islamische Staat" kontrolliert inzwischen um die Stadt Sirte herum einen rund 200 Kilometer langen Küstenstreifen. Der verzweifelte Versuch der Einwohner der Gaddafi-Geburtsstadt, sich von der Herrschaft der Terrormiliz zu befreien, wurde von den Kämpfern des IS im August mit aller Härte niedergeschlagen.

UN-Vermittler Leon schlägt vor, die Macht in Libyen zunächst in den Händen eines Exekutivrates mit präsidialen Vollmachten zu bündeln, der von einem 17-köpfigen Kabinett unterstützt wird. Der Präsidialrat soll bestehen aus einem Premierminister und drei Vizepremiers, die die traditionellen Regionen Tripolitana im Westen, Cyrenaika im Osten und Fezzan im Süden repräsentieren plus die Region Misrata. Vor allem die Misrata-Klausel jedoch brachte die Städte Zintan im Westen und Bengasi im Osten gegen den Plan auf, denn dort leben besonders viele der Rebellen und ihre Anhänger, die eigene Vizepremiers mit Vetovollmacht fordern. Ungelöst ist auch die künftige Rolle des umstrittenen Generals Khalifa Haftar und seiner Libyschen Nationalarmee (LNA), die hauptverantwortlich sind für die Eskalation der letzten drei Jahre.

Keine Ansprechpartner für die EU

Anders als auf der Balkanroute ließe ein endgültiger Zusammenbruch Libyens der Europäischen Union praktisch keine politischen Optionen, den Zustrom der Flüchtlinge zu managen oder zu begrenzen. Staatliche Ansprechpartner existieren in dem ruinierten Mittelmeeranrainer nicht mehr. Die für die dritte Phase der EU-Militärmission Eunavfor Med ins Auge gefasste Strategie, Schlepperboote zu versenken sowie Schlepperbanden auf libyschem Boden durch Kommandoaktionen oder Luftangriffe auszuschalten, birgt hohe Risiken und geringe Erfolgsaussichten.
Eine militärische Bekämpfung von Schleusern sei brandgefährlich, warnte diese Woche dann auch Barbara Lochbihler, die außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen im Europaparlament, die sich dabei auf Gespräche mit libyschen Menschenrechtlern, Richtern und Stammesführern beruft. "Das müssen sich die Brüsseler Abschottungsexperten zu Herzen nehmen. Die EU darf kein Öl ins Feuer kippen."

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