Bundesregierung: Ärzte verhindern Abschiebungen

  23 September 2016    Gelesen: 692
Bundesregierung: Ärzte verhindern Abschiebungen
Viele Ärzte in Deutschland verhindern offenbar durch falsche Atteste die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber – behauptet zumindest die Bundesregierung. Doch es gibt zahlreiche Einzelfälle, in denen die Rückführung tatsächlich bedenklich ist.
An Erijon Havolli kann man sehen, wie schwierig das alles ist. Der acht Jahre alte Junge aus dem Kosovo lebt mit seiner Familie – Mutter, Vater und dem sechs Jahre alten Bruder – in Bammental, im Norden Baden-Württembergs. Der Junge ist schwer krank. Er leidet an einer Fehlbildung des Darmes, musste bereits mehrere Operationen über sich ergehen lassen, ist gezwungen stets Windeln zu tragen, die häufig gewechselt werden müssen, und muss wohl sein Leben lang ein tägliches Darmspülverfahren über sich ergehen lassen. In Kindergarten oder Schule geht er nicht, weil der Gestank, der von ihm ausgeht, so groß ist. Dem Jungen sei in der Heimat der Bauch „zerschnibbelt“ worden, sagt ein Ehrenamtlicher, der sich für das Kind einsetzt, und wenn er von dessen Schicksal erzählt, dann versagt ihm die Stimme.

Der ehrenamtliche Helfer hat Gutachten von Oberärzten und Professoren gesammelt, Berichte über die Erkrankung des Kindes und über die katastrophale medizinische Versorgung im Kosovo, wo es eine Behandlung nur gegen Schmiergelder gebe – und die Familie habe kein Geld. Sie kam im Februar des vergangenen Jahres nach Deutschland und beantragte Asyl. Das wurde ebenso abgelehnt wie die spätere Klage der Familie gegen den negativen Bescheid. Das Gericht verweist in der Begründung der Entscheidung darauf, dass nach den Maßgaben des Gesetzes, keine „erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben“ des Klägers besteht. Denn von einer „abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustandes“ könne nicht schon dann gesprochen werden, wenn „lediglich die Heilung eines Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungsfall nicht zu erwarten ist“. Die Familie will in Berufung gehen und einen Asylfolgeantrag stellen.

Symptomatisch für das Gesamtbild
Ein Einzelfall, ein tragischer noch dazu, der offenbar auf den Tisch eines Richters geriet, der sich streng an den Wortlaut des Gesetzes hielt. Andere entscheiden da eher im Sinne der Asylbewerber. Und doch ein Fall, der symptomatisch ist für das Gesamtbild: Es geht immer um Einzelpersonen die abgeschoben werden sollen. Rückführungen, wie Abschiebungen im Beamtendeutsch genannt werden, sind Ländersache und je weiter man auf den politischen Ebenen nach unten geht, desto eher gibt es jemanden, der ruft: In diesem Fall ist das doch unmenschlich.

Das führt dazu, dass im Verhältnis zur Anzahl der Zuzüge relativ wenig abgeschoben wird. Das war schon immer so. Nach Angaben der Bundesregierung lebten Ende Juni insgesamt 549.209 rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber in Deutschland – rund 406.000 von ihnen seit mehr als sechs Jahren. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei hervor, die dieser Zeitung vorliegt. 46 Prozent der abgelehnten Asylbewerber haben ein unbefristetes, 34 Prozent ein befristes Aufenthaltsrecht, 18 Prozent werden geduldet. Die meisten abgelehnten Asylbewerber stammen aus der Türkei (77.600), dem Kosovo (68.500), Serbien (50.800) und Afghanistan (28.000).

Die Zahlen werden sich mit Blick auf den enormen Zuzug von Asylsuchenden vom vergangenen Jahr wohl bald erhöhen, denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) entscheidet mittlerweile über deutlich mehr Asylanträge pro Monat. Zwar stehen dem steigende Abschiebezahlen gegenüber. Baden-Württemberg etwa schob in diesem Jahr mehr als 2500 Personen ab und damit schon Mitte September mehr als im Vorjahr insgesamt. Sachsen wiederum schob bis Ende August sogar 2511 Personen ab, im Vorjahreszeitraum waren es nur 812. Aus Bayern, das für sich in Anspruch nimmt, schneller als andere Länder abzuschieben, wurden bis Anfang September rund 2300 Personen zurückgeführt (im Vorjahr waren es insgesamt rund 4200). Die Zahlen sind in fast allen Bundesländern gestiegen. Allerdings auf sehr geringem Niveau.

Oft scheitert eine Abschiebung zunächst an fehlenden Reisedokumenten. So dürfen momentan knapp 37.000 Menschen in der Bundesrepublik bleiben, weil sie keine Reisedokumente besitzen. Zudem sind die Behörden auf die Kooperation der Herkunftsstaaten angewiesen, was in vielen Fällen äußerst schwierig ist. Auch tauchen viele Abzuschiebende unter. Oft fehlt dann ein Kind – und Familien werden nur vollzählig rückgeführt. In vielen Fällen leben die Menschen irgendwann schon so lange im Land, gehen zur Schule, sind integriert und haben den Bezug zur Heimat so weit verloren, dass eine Abschiebung immer härter wird. Das mündet in vielen Fällen in einem dauerhaften Aufenthaltstatus.

Verzögert werden Abschiebungen auch dadurch, dass regelmäßig neue ärztliche Atteste vorgelegt werden. Die Bundesregierung hat in diesem Punkt mit dem Asylpaket II die Gesetze zwar verschärft. So sollen lediglich „lebensbedrohliche und schwerwiegende“ Krankheiten (und etwa nicht mehr eine Posttraumatische Belastungsstörung) ein Abschiebehindernis darstellen. Im Gesetzestext heißt es nun, von einer Abschiebung sei nur abzusehen, wenn eine „erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht“. Doch geändert hat das in der Praxis kaum etwas.

Das Thema sorgte im Juni für Streit bis hin zu Rücktrittsforderungen an den Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Schließlich hatte dieser geäußert: „Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden.“ Doch die Zahl ließ sich nicht beweisen. Bundesweite Durchschnittszahlen gäbe es nicht, hieß es hernach vom Innenministerium. Dem Minister sei in Gesprächen „spotlight-artig“ von bis 70 Prozent berichtet worden. Fraglich ist, ob die Zahl nicht aus einem anderem Kontext stammte – und damit falsch war. So oder so blieb der Vorwurf im Raum: Ärzte verhindern Abschiebungen.

Diesen Vorwurf hat die Bundesregierung nun deutlicher als zuvor formuliert. In einer Antwort auf eine weitere Kleine Anfrage der Linkspartei heißt es auf die Frage, in welchem Umfang von Ärzten „bewusst falsche Atteste oder Gutachten im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausgestellt“ würden: Der Bundesregierung sei beim Dialog mit Ländern und Ausländerbehörden von „auffälligen Attestierungen“ berichtet worden. Es werde eine „Vielzahl von Attesten vorgelegt, die auffallen, weil immer wieder die gleichen Ärzte mit gleichlautendem Inhalt oder fehlender fundierter Begründung Reiseunfähigkeit attestieren“. Häufig enthalte eine größere Anzahl Atteste gleich zu Beginn der Ausführungen Formulierungen wie „Verdachtsdiagnose“, woran sich das Votum anschließe, es solle „keine Abschiebung erzwungen werden“.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, sagte dazu der F.A.Z.: „Statt Spekulationen über mögliche Gefälligkeitsgutachten abzugeben, muss dafür gesorgt werden, dass die Voraussetzungen für die Gutachtenerstellung stimmen.“ Ärzte benötigten für eine gründliche Diagnose körperlicher und seelischer Krankheiten ausreichend Zeit. Wichtig sei auch die fachliche Qualifikation der Gutachter. Daher habe die Ärztekammer ein „Curriculum mit Standards für die Qualifizierung von Gutachtern“ erstellt. „Auch von Seiten der Bundesregierung konnten keine bundesweiten Zahlen genannt werden, die Vorwürfe von Gefälligkeitsgutachten in Abschiebeverfahren untermauern würden“, sagte Montgomery. Zwischen Vertretern des Bundesinnen- und Gesundheitsministeriums und jenen der Bundesärztekammer wurden kürzlich Gespräche zu dem Thema aufgenommen. Bisher, heißt es dazu von der Bundesärztekammer, lägen noch keine Informationen über ein Ergebnis vor.



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