Erna F. soll ihren Sohn nachts in der Nähe eines Gasherds abgelegt haben, der Junge habe Kohlenmonoxid eingeatmet, danach soll Erna F. das Kind zum Sterben in sein Bett gelegt haben. Die Seniorin bestreitet den Vorwurf. Der Tod ihres Sohnes sei ein Unfall gewesen, das hatte sie schon damals sofort dem Notarzt gesagt. Der Junge habe Rosinenkuchen genascht, am Gasherd gespielt und sich selbst vergiftet.
Es war der 5. November 1974, sechs Uhr morgens, als der Notarzt in der brandenburgischen Kleinstadt Schwedt gerufen wurde. Die Mutter führte ihn ins Kinderzimmer, wo dem Mediziner am Jungen die rosafarbenen Totenflecken auffielen - Anzeichen für eine Vergiftung. Der Notarzt regte eine Obduktion an, die zwei Tage später erfolgte und seinen Verdacht bestätigte. "73 % CO Hb" wurde handschriftlich auf dem Obduktionsprotokoll vermerkt - Mario F. starb, weil sich in seinem Blut 73 Prozent Kohlenmonoxid befanden. Das Kind musste giftiges Stadtgas direkt an der Quelle eingeatmet haben. Und mit einem solchen Wert kann sich niemand mehr allein in sein Bett schleppen.
Der Junge machte der Mutter oft Ärger
Schnell geriet Erna F. unter Verdacht. Die damals 32-jährige Chefsekretärin war kurz zuvor zum zweiten Mal geschieden worden und lebte allein mit ihren drei Kindern. Die zwölfjährige Carmen half bei der Betreuung der jüngeren Geschwister, doch Mario bereitete der Mutter ständig Ärger: Er schwänzte die Schule, lungerte an den Bahngleisen herum und kokelte in seinem Zimmer. Erna F. wollte ihren Sohn im Heim unterbringen. Ihr Ansinnen wurde abgelehnt, weil die Schulpädagogen ihn nicht für verhaltensauffällig hielten. Und dann war der Junge tot.
Der damalige Staatsanwalt sah kein überzeugendes Mordszenario. "Er hätte die Mordkommission anrufen müssen", sagt nun Staatsanwältin Bargenda. Stattdessen stellte der mittlerweile verstorbene Kollege das Todesermittlungsverfahren ein. Einiges in dem Fall wirkt heute merkwürdig. So habe F., Chefsekretärin eines Forschungsdirektors und Geheimnisträgerin, mehrfach Ausreiseanträge gestellt, ohne dass dies in ihren Stasi-Akten thematisiert wurde. "Wollte da jemand Erna F. schützen?", fragt die Staatsanwältin.
Erst ein anonymer Hinweis 2009 führte zu neuen Ermittlungen im Todesfall Mario. Im April 2016 begann der Prozess in Neuruppin. Nun, da die Verhandlung zu Ende geht, sieht die Staatsanwältin nichts, was die Angeklagte entlasten könnte.
Es sei einfach unglaubhaft, dass der Junge in der Nacht Rosinen am Herd genascht, alle drei Brenner sowie den Backofen aufgedreht und das Gas eingeatmet habe, bis ihn seine ältere Schwester gefunden und die Gashähne geschlossen habe, ihren tödlich vergifteten Bruder ins Bett gebracht und schließlich noch gelüftet habe, sodass am Morgen niemand mehr den typischen Stadtgas-Geruch nach faulen Eiern wahrnahm.
Auch der ehemalige Notarzt ist gekommen
Genau diese Version gefällt Verteidiger Uwe Furmanek am besten. Seiner Meinung nach hätte Carmen auch gar nicht lüften müssen - der Gasgeruch hätte sich mit den Stunden auch von selbst verflüchtigt. Wie die zierliche Zwölfjährige einen bewusstlosen Schwervergifteten hätte tragen sollen, erklärt er nicht; ebenso wenig, warum das Mädchen keine Hilfe holte. Der Verteidiger sieht keine Möglichkeit, wie Mario gegen seinen Willen mit Gas vergiftet worden sein könnte. Die von der Anklage vorgetragene Gabe eines Schlafmittels kann er sich nicht vorstellen, schließlich seien doch keine Tabletten im Mageninhalt gefunden worden.
Der Verteidiger sieht weder ein Motiv, noch finanzielle oder private Probleme, auch keine Überforderung mit dem Kind. Eher spricht er den chemischen Toxikologen in der Charité die Fähigkeit ab, den Kohlenmonoxidgehalt im Blut des toten Kindes richtig bestimmt zu haben. "Vielleicht haben die ein Röhrchen nicht richtig ausgewaschen?", sagt er. Dass der rechtsmedizinische Sachverständige, der vor Gericht sein Gutachten vorgetragen hat, einen Messfehler ausgeschlossen hatte, negiert der Jurist.
Im Publikum sitzt auch der ehemalige Notarzt, der selbst bereits als Zeuge ausgesagt hatte. Den Tod des Achtjährigen und die kühle Reaktion seiner Mutter darauf wird er sein Leben lang nicht vergessen. Bei den Ausführungen des Verteidigers kann der pensionierte Chefarzt nur noch mit dem Kopf schütteln.
Quelle : spiegel.de
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