Bis zum Herbst vergangenen Jahres wurden bundesweit bereits mehr als drei Millionen Exemplare verteilt, von nach eigenen Angaben bis zu 3000 Aktivisten der Vereinigung „Die wahre Religion“ (DWR). Es sind extrem umstrittene Aktionen, und nun bekommen die Initiatoren um den salafistischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie mehr denn je Gegenwind. Werden die Koranverteilungen verboten?
Dieses Ziel verfolgt zumindest der nordrhein-westfälische Landtag, in Düsseldorf wird in diesen Tagen intensiv über Abou-Nagie und seine Gefolgsleute diskutiert. Auslöser der Debatten ist ein Vorstoß der FDP, die am Freitag nach Informationen der „Welt“ den Antrag stellen will, die Aktivitäten im Zusammenhang mit „Lies!“ und verbundener Organisationen unverzüglich zu unterbinden.
Erst Koran verteilt, dann IS angeschlossen
Das Problem: Die Landesregierung ist gar nicht befähigt, solche Maßnahmen zu verhängen. Und so zögern die anderen Fraktionen, sich dem FDP-Antrag anzuschließen – obwohl sie gleicher Meinung sind. Die ganze Angelegenheit zeigt, wie schwer sich Staat und Politik tun, das Problem mit der Koranverteilung zu bewältigen.
Denn dass es ein Problem gibt, daran besteht längst kein Zweifel mehr. Bereits seit 2011 wird „Die wahre Religion“ vom Verfassungsschutz beobachtet, sie wird als salafistische Vereinigung eingestuft. Im Jahresbericht 2015 heißt es: „Es liegen vermehrt Hinweise auf Personen vor, die zunächst an Koranverteilaktionen teilgenommen hatten, um sich danach an den Kämpfen in Syrien zu beteiligen.“ Dass es Verbindungen gibt, ist unstrittig.
Die drei mutmaßlichen Terroristen etwa, die im April in Ulm verhaftet wurden, hatten im Vorfeld im Rahmen der „Lies!“-Aktion Korane verteilt – genauso wie der Mann, der im gleichen Monat einen Anschlag auf einen Essener Sikh-Tempel verübt haben soll.
Auch der Prediger Sven L., der sich aktuell wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung vor Gericht verantworten muss, machte bei „Lies!“ mit. Er soll IS-Terroristen Nachtsichtgeräte beschafft haben.
Noch drastischer: Der 21 Jahre alte Ahmed C. warb erst in Wuppertaler Fußgängerzonen für den Islam, dann schloss er sich dem IS an und wurde zu „Abu Kaakaa der Deutsche“. Im Sommer 2014 sprengte er sich in der irakischen Hauptstadt Bagdad in die Luft und riss 54 Menschen mit in den Tod.
FDP will gemeinsames Vorgehen gegen Salafisten
Der Verfassungsschutz stellte im Jahresbericht 2015 fest, dass an der Kampagne Personen mit dem Vorsatz teilnähmen, „islamistisch zu radikalisieren und jihadistisch zu rekrutieren“. Und so versuchen Behörden bundesweit, die Aktivisten zu stoppen, mit unterschiedlichem Erfolg.
In Hamburg etwa ist es gelungen, den Anmeldern der Aktionen eine Nähe zur dschihadistischen Szene nachzuweisen; seit Mai wurden 20 geplante Koranverteilungen gerichtlich verboten.
In Niedersachsen hat die Landesregierung den Kommunen empfohlen, ebenfalls Verbote auszusprechen – auf welcher rechtlichen Grundlage, ist allerdings unklar. Bremen sieht keine Möglichkeit, die Koranverteilungen zu stoppen, in den NRW-Städten Essen und Aachen warten die Behörden auf Urteile der Verwaltungsgerichte.
Ein gemeinsames Vorgehen ist bislang nicht möglich. Die FDP will, dass sich daran etwas ändert. Mit dem Antrag, der der „Welt“ vorliegt, soll das Bundesinnenministerium aufgefordert werden, das Netzwerk „Die wahre Religion“ und andere strukturverwandte Organisationen und Gesellschaften zu verbieten.
„Dieses Netzwerk rekrutiert für den Dschihad“
Im Fokus der liberalen Partei stehen dabei zwei Firmen Abou-Nagies: die mittlerweile aufgelöste Lies! GmbH und die im englischen Leicester ansässige Readlies Limited.
„Es gibt hinreichende Anlässe für ein Verbot“, sagte FDP-Fraktionsvize Joachim Stamp der „Welt“: „Dieses Netzwerk dient in erster Linie nicht der Koranverteilung, sondern rekrutiert für den Dschihad. Das muss verhindert werden.“ Stamp forderte die anderen Fraktionen auf, „als Demokraten gemeinsam ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass wir uns nicht alles bieten lassen“.
Dass es am Ende zu einem gemeinsamen Antrag kommt, ist allerdings unwahrscheinlich. Aus der Regierungspartei SPD ist zu hören, ein Verbot von Abou-Nagies Vereinigungen sei wünschenswert, das Vorgehen der FDP aber „nicht hilfreich“: „Man macht Verbote, aber man spricht nicht darüber“, so ein Abgeordneter. Ähnlich sieht es die Piratenpartei. Grüne und CDU äußerten sich bislang nicht.
Das Netzwerk „Die wahre Religion“ selbst beklagte sich am Wochenende über die Kritik an den „Lies!“-Ständen. „Sie reden nicht mit uns, sondern über uns“, hieß es dort. Und weiter: „Um sich eine Meinung zu bilden – das lehrt uns doch das deutsche Wertesystem –, sollte man auch die andere Seite gehört haben.“
Eine Anfrage der „Welt“ zum Antrag der nordrhein-westfälischen FDP beantwortete Ibrahim Abou-Nagie allerdings nicht.
Quelle : welt.de
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