Armut kann tödlich sein

  10 Oktober 2016    Gelesen: 942
Armut kann tödlich sein
Wer wenig Geld hat, lebt viele Jahre kürzer als andere Menschen. Wieso nimmt die Gesellschaft das hin?
Die Diskussion über Armut und Reichtum wird in Deutschland endlich wieder geführt. Dabei erstaunt jedoch ein blinder Fleck in der politischen Debatte: Die enormen sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung spielen kaum eine Rolle. Dabei liegen die wissenschaftlichen Fakten schon lange auf dem Tisch. Die Gesundheitswissenschaften, neudeutsch Public Health genannt, weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass auch in reichen Industriegesellschaften sozial Benachteiligte bei Gesundheit und Lebenserwartung deutlich schlechter abschneiden als sozial besser Gestellte und dass diese Unterschiede in den letzten Jahren zugenommen haben.

Das Robert-Koch-Institut hat im vergangenen Jahr einen Bericht zur Gesundheit in Deutschland veröffentlich. Demnach haben Frauen im untersten Fünftel der deutschen Gesellschaft eine um rund acht Jahre geringere Lebenserwartung als Frauen im obersten Fünftel der Gesellschaft. Bei Männern beträgt dieser Unterschied sogar mehr als elf Jahre. Diese Unterschiede erstrecken sich in der Tendenz über die gesamte Gesellschaft: Bessere soziale Lage bedeutet immer eine statistisch höhere durchschnittliche Lebenserwartung. Kurz: Wer ärmer ist, stirbt (wahrscheinlich) früher.

Soziale Ungleichheit wird hier so deutlich wie an kaum einer anderen Stelle. Es geht nicht darum, ob jemand sich einen Neuwagen leisten kann, sondern darum, wann der Leichenwagen vor der Tür steht. Es ist paradox: Wir sind uns einig, dass die Notfallmedizin nicht nach der sozialen Herkunft eines Hilfsbedürftigen fragen darf, nehmen aber einen frühen Tod von Ärmeren hin, als sei er einem unabänderlichen Karma geschuldet.

Warum ist dies kein politisches Mega-Thema? Was ist mit einer demokratisch verfassten Gesellschaft los, die die dramatische Tatsache eines enormen Verlusts an Lebenszeit für breite Bevölkerungsschichten hinnimmt? Zaghafte Ansätze wie das im letzten Jahr beschlossene Bundespräventionsgesetz setzen zwar einen Schwerpunkt bei sozial Benachteiligten, bringen aber nur Fortschritte im Schneckentempo.

Die Betroffenen in sozial schwieriger Lebenslage machen wenig Druck. Sie sind mit der Bewältigung ihres Alltags beschäftigt. Für sie steht die Sorge im Vordergrund, sich und ihre Familie Monat für Monat über die Runden zu bringen. Das Nachdenken über die Zukunft erfordert Freiräume, die der harte Alltag oft nicht hergibt.

Verstellter Blick

Krankheit und Tod werden zudem in allen Schichten als individuelle schicksalhafte Ereignisse wahrgenommen. Es finden sich schließlich immer Einzelbeispiele, die das Klassenschicksal scheinbar widerlegen. Auch im unteren Fünftel der Gesellschaft gibt es Menschen, die 80 Jahre oder älter werden, und auch einen Reichen kann der Krebstod in mittleren Jahren dahinraffen. Das verstellt den Blick auf gesicherte Durchschnittswerte.

Die Statistiker liefern uns aber auch regelmäßig Zahlen, die wie Beruhigungspillen wirken. Die Deutschen werden immer älter. Ein heute geborenes Mädchen hat eine Lebenserwartung von 83 Jahren, ein Junge von 78 Jahren. In den letzten 30 Jahren ist die Lebenserwartung um rund sieben Jahre gestiegen. Was oft übersehen wird: Die Chancen, diese Durchschnittswerte zu erreichen oder sogar zu übertreffen, sind je nach Schichtzugehörigkeit sehr unterschiedlich. Und der Abstand zwischen Arm und Reich, was die Länge des Lebens betrifft, hat in den letzten Jahren eher zugenommen.

Die Public-Health-Forschung ist ein feiner, aber kleiner Wissenschaftszweig, in dem die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und sozialen Faktoren untersucht werden. In der Öffentlichkeit bestimmt jedoch die naturwissenschaftlich dominierte Medizin den Diskurs über Gesundheit und Krankheit – und das, obwohl Unterschiede in der medizinischen Versorgung eher eine untergeordnete Bedeutung für die Erklärung der ungleichen sozialen Verteilung der Lebenserwartung haben.

Gesündere Lebensweisen und gesündere Lebensverhältnisse hängen in erster Linie von Bildung, sozialem Status und den zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen ab. Nicht der Manager hat das größte Herzinfarktrisiko, sondern der Fließbandarbeiter und der sozial schlecht integrierte Langzeitarbeitslose. Klassische Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthockdruck, Übergewicht und Bewegungsmangel sind zwar auch schichtabhängig verteilt. Bei gleichem Risikoprofil zeigen sich dennoch deutliche Vorteile für die höhere Klasse, was die Chancen auf ein längeres Leben betrifft. Warum wird dann eigentlich die Höhe von Rentenversicherungsbeiträgen nicht an die schichtspezifische Lebenserwartung gekoppelt, da ein kürzeres Leben doch kürzere Rentenlaufzeiten bedeutet?

Die Gesundheitswissenschaften liefern noch andere bemerkenswerte Erkenntnisse: Für die durchschnittliche Lebenserwartung in einer Gesellschaft ist das absolute Wohlstandsniveau nur bedingt maßgeblich. Ab einem bestimmten Niveau ist es entscheidender, wie groß der Abstand zwischen Arm und Reich ist. So hat der britische Epidemiologe Richard Wilkinson nachgewiesen: Je geringer das Ausmaß sozialer Ungleichheit in entwickelten Industriegesellschaften, desto höher ist die durchschnittliche Lebenserwartung, sowohl für die Ärmeren als auch für die Reichen. Solidarität scheint eine wichtige Gesundheitsressource zu sein und die Angst, sich gegen Armut abschotten zu müssen, erzeugt offenbar ungesunden Stress.

Was muss getan werden? Wir brauchen eine gesundheitswissenschaftliche Forschungsoffensive, deren finanzielle Ressourcen mit denen der individualmedizinischen Spitzenforschung vergleichbar sind. Viele offene Fragen zu Verursachungsmechanismen und erfolgversprechenden Lösungsstrategien sind noch wissenschaftlich zu klären.

Von Bildung bis Stadtpolitik

Aber: Die Ansatzpunkte zur Lösung der Probleme liegen in allen gesellschaftlichen Bereichen, in denen wir es mit sozialen Benachteiligungen zu tun haben. Wesentliche Bausteine für eine soziale Gesundheitsstrategie sind daher verstärkte Bildungsanstrengungen, vor allem in Kindheit und Jugend, betriebliche Gesundheitsförderung im Sinne gesundheitsförderlicher Organisationsentwicklung, wirksame Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit und für den Aufbau und die Festigung stabilisierender sozialer Netzwerke und die Förderung gesundheitsgerechter Lebenswelten im Rahmen einer Stadtentwicklungsplanung.

Anstatt kurzlebiger Modellprojekte ist ein nationaler Präventionsplan zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit nötig. Eine „sprechende“ Medizin mit mehr Kommunikation zwischen Ärztin und Patient muss über neue Vergütungsregelungen für Ärzte gestärkt werden. Ebenso sollten über Kassenfinanzierung Gruppenpraxen ermöglicht werden, in denen Ärzte und Sozialarbeiter kooperieren. Sie könnten dann eine Sozialmedizin praktizieren, die Individualmedizin mit lebensweisenorientierter Gesundheitsförderung verbindet. Ihr Markenzeichen wäre eine Kultursensibilität, die einen Zugang zu Patienten aus benachteiligten Milieus mit und ohne Migrationshintergrund erschließt und Unterstützung bei der Bewältigung sozial bedingter gesundheitlicher Probleme anbietet.

Das Gesundheitswesen braucht eine Perestroika. Aber das genügt nicht. Eine soziallagenorientierte Gesundheitspolitik muss sich auch in die „große Politik“ einmischen und aktiv Armut bekämpfen.


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