Österreich sieht sich zu Unrecht am Pranger

  30 Oktober 2015    Gelesen: 718
Österreich sieht sich zu Unrecht am Pranger
Zwischen Wien und Berlin hat sich der Ton verschärft. Deutschland habe einseitig festgelegt, weniger Flüchtlinge aufzunehmen, klagen die Österreicher. Dabei drängen täglich tausende neue Flüchtlinge ins Land.
Vorwürfe aus Bayern sind die Österreicher gewohnt. Aber jetzt auch noch Berlin! Dass jemand wie Innenminister Thomas de Maizière die Österreicher scharf kritisiert, zeugt von einer neuen Tonart und verschärften Spannungen. Denn bisher hatten die offiziellen Vertreter in Wien und Berlin übereinstimmend betont, man sei in bestem Kontakt. Insbesondere der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann versichert bei jeder sich bietenden Gelegenheit, in welch regelmäßigem Austausch er sich mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel befinde. Fast täglich werde telefoniert.

Und dann kamen die Vorwürfe des Innenministers aus Berlin - der Kern der Anschuldigungen, die nun de Maizière erhoben hat: Österreich habe "Flüchtlinge ohne jede Vorwarnung nach Eintritt der Dunkelheit an bestimmte Stellen gefahren", von wo aus die Menschen "unvorbereitet und ohne jede Vorsorge" an die Grenze zu Deutschland geschickt worden seien. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hatte zuvor die österreichischen Behörden schon der Schleuserei bezichtigt.

Die Vorwürfe hat das Innenministerium in Wien nicht dementiert. Auch nicht, dass mehr Flüchtlinge an die deutsche Grenze gebracht wurden als vereinbart. Allerdings wird moniert, dass Deutschland einseitig eine Zahl festgelegt habe, die viel zu gering sei. 50 Flüchtlinge werden pro Stunde über die Grenze gelassen. Das gelte ohnehin für alle fünf Übertrittstellen, beeilte sich der bayerische Innenminister Joachim Herrmann zu versichern. Aber gemessen am Andrang immer noch viel zu wenig, klagen die österreichischen Behörden. Wer nun wen zu wenig informiert, darüber gibt es wechselseitige Schuldzuweisungen und nach der Eskalation am Donnerstag die Zusage von beiden Seiten, sich zu bessern.

Österreich sieht sich von Deutschland zu Unrecht an den Pranger gestellt. Denn am südlichen Ende in Spielfeld an der slowenisch-österreichischen Grenze drängen immer mehr Flüchtlinge herein. 6000 bis 7000 sind es an einem Tag. Die meisten von ihnen wollen nach Deutschland und lassen sich auch nicht davon abhalten. So haben sich in den vergangenen Tagen immer wieder größere Menschengruppen zu Fuß auf den Weg gemacht, um es aus eigener Kraft nach Deutschland zu schaffen. Das Bundesheer koordiniert nun die Busse für die Weiterbeförderung quer durch Österreich. Wohin die Reise geht, diktiert aber das Innenministerium. Laut neuesten Zahlen befinden sich in den Transitlagern 14.000 bis 19.000 Menschen.

Mehr Flüchtlinge bleiben lieber in Österreich

Dass die Bereitschaft in Deutschland zur Aufnahme zusehends geringer wird, hat sich auch unter den Flüchtlingen schon herumgesprochen. Die Folge: Immer mehr beantragen Asyl in Österreich. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sagte nach einem Treffen mit Vertretern aus den Bundesländern, dass Österreich immer mehr zum Zielland werde. Mehr als 500 Asylanträge täglich wurden in dieser Woche gezählt. Dass in Österreich zumindest im zweiten Quartal dieses Jahres pro Kopf der Bevölkerung mehr Menschen Asylanträge gestellt haben, bestätigen auch neueste Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat. Bisher waren es insgesamt rund 65.000 Anträge, bis Jahresende wird mit mindestens 80.000 gerechnet.

Wie und wo man Asylwerber dauerhaft in winterfesten Quartieren unterbringen kann, beschäftigt die Behörden in beiden Ländern gleichermaßen. Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen bei Wien ist seit Monaten voll, händeringend werden Unterkünfte in den neun Bundesländern gesucht. Seit dem Sommer sind 30.000 zusätzliche Plätze für Unterbringung geschaffen worden. Allerdings gibt es laut dem zuständigen Chef der Behörde, Wolfgang Taucher, derzeit für bis zu 3.500 Asylwerber keine Unterkunft. Außerdem sind 360 Menschen an zwei Standorten lediglich in Zelten untergebracht, für die auch dringend eine Lösung gesucht werden muss.

Da bisher nur sehr zögerlich Angebote aus den Bundesländern kamen, wurde dem Bund ein Durchgriffsrecht eingeräumt. Seit 1. Oktober gibt es diese Möglichkeit nun, sieben Mal wurde davon Gebrauch gemacht und laut Innenministerium 1850 dauerhafte Quartiere auf diese Weise gesichert.

Ein Zaun, der keiner sein soll

Streit unter den Regierungsparteien gibt es in Österreich auch. Einig sind sich alle, dass der Zustrom nach Österreich geordneter an den Grenzübergängen ablaufen und dies mit "baulichen Maßnahmen" erreicht werden soll. Aber mit welchen genau darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Während die von der konservativen ÖVP kommende Innenministerin erklärte, "natürlich geht es auch um einen Zaun", beeilte sich der sozialdemokratische Bundeskanzler Faymann zu versichern, es werde kein Grenzzaun gebaut sondern "ein Türl mit Seitenteilen".

Es geht hier nicht nur um semantische Feinheiten sondern um eine andere Auseinandersetzung: Der österreichische Regierungschef hatte seinen ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán wegen der Errichtung von Grenzzäunen scharf kritisiert – und nun will auch Österreich einen Zaun bauen, das aber nicht so nennen.

Der Ton wird rauer: Die Bewältigung des Flüchtlingsproblems vergrößert die Gräben zwischen den Nachbarländern in Europa, nicht nur zwischen Deutschland und Österreich.

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