Wie krank ist Deutschland wirklich?
Anlass zum Zweifeln liefert ausgerechnet der Chef der Techniker Krankenkasse Jens Baas, der größten gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Baas bezichtigte kürzlich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, Patienten auf dem Papier kränker zu machen, als sie sind. Denn so bekommen sie mehr Geld aus dem mit 200 Milliarden Euro jährlich gefüllten Gesundheitsfonds. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall“, sagte Baas.
Krank auf dem Papier ist nicht gleich krank in der Realität
Es ist nicht das erste Mal, dass man sich verwundert die Augen reibt. Hält sich denn keiner mehr an die Regeln? Erst in der vergangenen Woche haben Flugbegleiter und Piloten mit mehr als 500 Krankmeldungen die Fluggesellschaft TUI fly am Boden gehalten. Der Verdacht liegt nahe, dass sie sich absprachen, um Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben. Schließlich wurden gleichzeitig Pläne bekannt, TUI fly in eine Ferienflugholding mit der Air-Berlin-Tochtergesellschaft Niki einzubringen.
Und was ist mit den halbleeren Schulklassen kurz vor den Sommerferien, wenn der Flug noch etwas günstiger ist als am Samstag? Nicht ohne Grund verlangen manche Schulen ein ärztliches Attest, sollte ein Kind am letzten Tag vor oder am ersten Tag nach den Ferien fehlen. Oder den Kollegen, die auffällig oft am Brückentag krank sind? Diese Fälle fließen zwar nicht immer in die Statistiken ein, weil bei Krankmeldungen bis zu drei Tagen in vielen Unternehmen keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werden muss. Doch der Eindruck bleibt haften: Jeder macht, was er will – und krank auf dem Papier ist nicht gleich krank in der Realität.
Gesundheitszustand der Deutschen in den Statistiken zu schlecht dargestellt?
All das wirft die Frage auf, ob Deutschland nicht in Wahrheit viel gesünder ist als bislang gedacht. Besonders im Fall der Schummeleien durch die Krankenkassen bekommt das Wort „krankschreiben“ plötzlich eine ganz neue Bedeutung. TK-Chef Baas nährt diesen Verdacht selbst: „Bei uns hat sich die Zahl der Fälle von Depressionen in den vergangenen vier Jahren vervierfacht.
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Und das sicher nicht nur, weil die Leute kränker werden und das Problem weniger stigmatisiert wird“, sagte er der F.A.S. Fachleute bestätigen diese Vermutung. So sagt etwa Gerd Glaeske, Gesundheitsökonom an der Universität Bremen: „Es ist durchaus vorstellbar, dass gerade im Bereich der Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Depressionen der Gesundheitszustand der Deutschen in den Statistiken zu schlecht dargestellt wird.“
Grundlage dafür, dass das überhaupt möglich wurde, sind die Betreuungsstrukturverträge, die fast alle gesetzlichen Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen abgeschlossen haben. Formal geht es in diesen Verträgen darum, dass die Patienten besser betreut werden. Doch versprechen die Krankenkassen den Ärzten Geld, wenn sie die Diagnosen ihrer Patienten mit dem „richtigen“ Zahlenschlüssel versehen. Dahinter steckt ein finanzielles Kalkül, das mit der Struktur des Risikofinanzausgleichs zusammenhängt.
Berater machen Verbesserungsvorschläge
Die Kassen führen inzwischen ihre gesamtem Beitragseinnahmen an den Gesundheitsfonds ab. Welche Kasse bei der Ausschüttung wie viel zurückbekommt, hängt von der Struktur ihrer Versicherten ab. Dabei geht es zum einen darum, ob eine Kasse viele ältere und kranke Menschen unter ihren Versicherten hat. Hinzu kommen feste Pauschalen für 80 besonders teure und häufige Krankheiten, die jedes Jahr neu festgelegt werden. Dabei spielt auch eine Rolle, wie schwer eine Erkrankung ist, es sich also um eine leichte oder eine schwere Depression handelt.
Für die Kassen kommt es nun also darauf an, dass die Ärzte möglichst genaue Diagnosen stellen – und zwar bis auf die letzte Ziffer des Zahlencodes genau. Regelmäßig schicken sie daher ihre Berater in die Praxen, die den Ärzten Verbesserungsvorschläge machen. Dieses Vorgehen wird weithin als legitim angesehen. Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen sagt: „Grundsätzlich halte ich es für vertretbar, wenn die Kassen sich um vollständigeres Kodieren kümmern – auch wenn dabei eigennützige Interessen im Vordergrund stehen.“
Studien greifen oft auf Angaben der Krankenkassen zurück
Heikel wird es allerdings, wenn die Kassen Ärzte dazu drängen, einen anderen Schweregrad einer Krankheit einzutragen oder gar eine schwerwiegendere Erkrankung. Solch ein Vorgehen führt zum einen dazu, dass Kassen mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds bekommen, als ihnen zusteht. Darüber hinaus hat es das Potential, das Bild der Krankheitslast in Deutschland zu verzerren. Schließlich spielen in allen Studien hierzu ärztliche Diagnosen in der einen oder anderen Form eine Rolle.
Das gilt nicht nur für Untersuchungen, in denen die Daten der gesetzlichen Krankenkassen direkt genutzt werden, was über das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information seit einiger Zeit möglich ist. So erschien kürzlich eine Studie zur Verbreitung von Diabetes in Deutschland, die auf die Angaben der Krankenkassen zurückgriff. Auch wenn Wissenschaftler mit Befragungen arbeiten, wie es etwa das Robert-Koch-Institut in seinen regelmäßigen Veröffentlichungen zum Gesundheitszustand der Deutschen tut, kann es zu einer Verzerrung kommen.
Keine „wahren“ Daten
„Der Patient wird im Interview die Diagnose wiedergeben, die der Arzt ihm mitgeteilt hat“, sagt Glaeske von der Universität Bremen. Wie sehr allerdings das Bild zum Gesundheitszustand der Deutschen verzerrt ist, ist nach Ansicht von Fachleuten schwer zu beurteilen, da das Ausmaß der Manipulationen nicht bekannt ist. „Wir haben keine ,wahren‘ Daten, mit denen wir die Diagnosen der Ärzte vergleichen können. Daher wissen wir nicht, wie gesund oder krank die Deutschen wirklich sind“, sagt Boris Augurzky, Gesundheitökonom am Essener RWI-Institut.
Umso beunruhigender ist es, dass selbst sehr erfahrene Ärzte nur selten zu der gleichen Diagnose kommen, wie eine schon 2009 veröffentlichte Studie der Universität Leipzig und der Sächsischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin zeigt. Hierfür sollten je zwei Ärzte die Daten von rund 8900 Patienten kodieren. Das Ergebnis: Nur wenn die Ärzte eine sehr grobe Einteilung vornehmen sollten, stimmte ihre Einschätzung einigermaßen überein. Je konkreter sie die Diagnosen verschlüsseln sollten, desto größer waren die Abweichungen. Bei einigen Krankheitsbildern kamen die beiden Ärzte in nicht einmal zehn Prozent der Fälle zu dem gleichen Ergebnis.