Die Mythen wachsender Ungleichheit
Nicht richtig ist, dass die Ungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten durchgehend zugenommen hat. Das zeigen die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) angesiedelt ist.
DIW-Präsident Marcel Fratzscher hat an dieser Stelle zwar argumentiert, dass die Ungleichheit der Einkommen seit 2005 zumindest nicht gesunken sei, wenn man alle Beschäftigten einschließlich der Beamten, Selbstständigen und Teilzeitbeschäftigten einbeziehe. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, muss man aber zusätzlich die Menschen berücksichtigen, die seit 2005 Beschäftigung gefunden und vorher nicht gearbeitet haben. Zieht man die SOEP-Daten zum Bruttoarbeitseinkommen aller potenziellen Arbeitnehmer zurate, zeigt sich: Die Ungleichheit in der Gesamtbevölkerung hat seit 2006 deutlich abgenommen und ist sogar unter den Wert aus dem Jahr 2000 gesunken. Diese Daten berücksichtigen ausdrücklich auch Personen ohne Arbeitseinkommen. Ebenso wird nicht zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten, Beamten oder Selbstständigen unterschieden.
Die positive Entwicklung hat einen Grund: Die Anzahl der Personen, die bislang kein Arbeitseinkommen erzielt haben und damit zu den wirtschaftlich schwächsten in der Gesellschaft zählten, ist gesunken. Die Kernidee der Agenda 2010 und der Hartz-Reformen wurde also erfolgreich umgesetzt und bewirkte zudem, dass die Ungleichheit der Bruttoreallöhne zurückgegangen ist.
Betrachtet man die Entwicklung über einen längeren Zeitraum, so zeigt sich zwar ein anderes Bild: Seit den 1970er Jahren ist die Ungleichheit der Arbeitseinkommen in Deutschland gestiegen. Doch dafür gibt es mehrere gute Gründe.
Erstens: Weil die Erwerbsbiografien von Frauen anders verlaufen als die von Männern, ist unter ihnen die Ungleichheit größer. Und weil heute ein größerer Teil der weiblichen Bevölkerung arbeitet, ist auch die Ungleichheit insgesamt gestiegen. Zweitens: Unter älteren Arbeitnehmern ist die Ungleichheit höher als unter jüngeren. Und weil heute ein größerer Anteil der Beschäftigten über 50 ist, ist die Ungleichheit ebenfalls gestiegen. Einen ähnlichen Effekt hat, drittens, der Anstieg des Anteils hoch qualifizierter Arbeitnehmer. All das ist begrüßenswert – auch wenn es bewirkt hat, dass die Lohnungleichheit nicht schon früher gesunken ist.
In einem Punkt ist Fratzschers Analyse jedoch zuzustimmen: Die Ungleichheit der Bruttoeinkommen fällt im internationalen Vergleich relativ hoch aus, bei einem Vergleich unter 20 OECD-Ländern nimmt Deutschland Rang 17 ein. Doch auch das wiegt weniger schwer als gedacht. Wichtiger als ein Blick auf die Markteinkommen ist nämlich der Blick auf die verfügbaren Einkommen – also die Einkommen abzüglich der gezahlten Steuern und der Sozialversicherung und zuzüglich der empfangenen Transfers. Ähnlich wie Schweden oder Dänemark gehört Deutschland zu den Staaten, die stark umverteilen. Folge: Vergleicht man die Ungleichheit der Nettoeinkommen, rückt Deutschland unter den 20 OECD-Ländern auf Rang 7 vor.
Der wirklich interessante Punkt ist jedoch, dass die starke Umverteilung in Ländern wie Deutschland oder Schweden das Markteinkommen beeinflusst. Ein Beispiel: Möchte ein deutsches Unternehmen hoch qualifizierte Fachleute wie IT-Spezialisten einstellen, muss es ein Nettoeinkommen zahlen, das sich mit dem in anderen Ländern messen kann. Die hohen Einkommensteuern führen dazu, dass der Bruttolohn entsprechend höher sein muss als beispielsweise in den Vereinigten Staaten. Unternehmen müssen demzufolge höhere Bruttolöhne für Hochqualifizierte zahlen, wenn sie in einem Land ansässig sind, in dem mehr umverteilt wird. Das heißt: Ausgerechnet die hohe Umverteilung bewirkt eine hohe Ungleichheit der Bruttoeinkommen.
Bemerkenswert ist auch, dass die Dynamik der Bruttoeinkommensungleichheit von Haushalten in Deutschland seit 2005 rückläufig ist. Dies trifft jedoch nicht auf die Entwicklung der Nettoeinkommen zu. Ein Grund dafür könnte der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer sein. Berechnungen zeigen, dass das Problem der kalten Progression sich insbesondere bei kleinen und mittleren Einkommen auswirkt. Haushalte, in denen ein Mitglied neu auf dem Arbeitsmarkt tätig wurde, können zwar höhere Nettoeinkommen verbuchen. Gleichzeitig steigt damit aber auch der Durchschnittssteuersatz auf das bereits vorhandene Einkommen. Damit nimmt der Staat einen Teil der Einkommenszuwächse wieder weg. Dies ist vor allem für ärmere Haushalte relevant, bei denen der Anstieg des Grenzsteuersatzes einen starken Anstieg des Durchschnittssteuersatzes nach sich ziehen kann.
Es wäre besser, die Steuerlast auf kleine und mittlere Einkommen zu überprüfen, als Mythen über die in Deutschland wachsende Einkommensungleichheit weiterzutragen.