Bisher schien es, als halte sich die Empörung der Amerikaner über die betrügerische Manipulation der Abgase von VW-Dieselmotoren in Grenzen. Zwar spotteten sie über die Deutschen, die sich immer ihrer besonders umweltfreundlichen Technik gerühmt hatten. Doch ungleich schwerer als die VW-Affäre wiegt in den Augen der Amerikaner der Skandal um General Motors. Der US-Hersteller musste im letzten Jahr eingestehen, dass er jahrelang Probleme mit dem Zündschloss verschwiegen hatte. Dies führte in zahlreichen Fällen zum Versagen der Airbags. Den Angehörigen von mindestens 134 Todesopfern muss der Konzern Schadensersatz zahlen.
Gemessen daran schien das Vergehen von VW fast schon verzeihlich. Schließlich ging es da nur um die Verpestung der Luft. Die Sicherheit der Fahrzeuginsassen war durch den hohen Stickoxid-Ausstoß nie gefährdet. Jetzt aber hat der Ingenieur Steven Barrett vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) zusammen mit Kollegen von der Harvard University nachgerechnet. Das Fazit hat er in den "Environmental Research Letters" veröffentlicht: Auch der VW-Skandal sei verantwortlich für Todesfälle. Etwa 60 Amerikaner seien vorzeitig gestorben, weil sie die verunreinigte Abgasluft atmen mussten. Die Kosten für die Sozialkassen beziffern die Forscher auf 450 Millionen Dollar.
Schaden an Herz und Bronchien
Barrett und sein Team legten bei ihren Rechnungen die Messungen der West Virginia University zugrunde, die den Skandal offenbart hatten. Bis zu 40-fach übersteigt demnach das Abgas der betroffenen VW-Dieselmotoren die zulässigen Stickoxid-Werte. Insgesamt bliesen die 482.000 in den USA verkauften Dieselfahrzeuge Barretts Rechnung zufolge gut 36 Millionen Kilogramm des schädlichen Gases mehr in die Luft, als sie hätten ausstoßen dürfen. Diese Abgase und das durch sie gebildete Ozon, so argumentieren Barrett und seine Kollegen, können Herz und Bronchien schaden. Bei wie vielen dies zum Tode führt, lässt sich anhand bekannter Daten aus der Umweltmedizin errechnen.
Nun komme es vor allem darauf an, dass VW, wie versprochen, den Mangel der betroffenen Autos behebt. "Wenn die Wagen bis Ende 2016 zurückgerufen werden und wenn die Besitzer sie dann auch in die Werkstatt bringen, dann kann das Leben retten", sagt Barrett. Andernfalls sei mit weiteren 140 Todesfällen zu rechnen.
Der Forscher betont, dass es sich in seiner Rechnung nur um statistische Tote handle. Anhand der bekannten Daten lasse sich ermitteln, um wie viel sich die Sterblichkeit durch die Abgase erhöht. Die Toten zu benennen, sei indes unmöglich: "Sie können nicht bei ihnen an der Tür klopfen und sagen: Sie werden zu den Opfern gehören", sagt der Forscher. Juristisch jedoch können solche statistischen Hochrechnungen dazu dienen, den Schaden zu bemessen, der durch den Abgasbetrug entstanden ist. "Ich würde mich nicht wundern, wenn unsere Zahlen vor Gericht auftauchen", sagt Barrett.
Vor allem aber ist er gespannt, was die Auswertung der europäischen Daten ergeben wird. Mit der Analyse habe er gerade erst begonnen. Ein paar Monate werde es noch dauern, bis er Ergebnisse präsentieren kann. Eines aber lasse sich jetzt schon mit Gewissheit sagen: Die Zahl der Toten wird in Europa erheblich höher sein. "Die Bevölkerungsdichte ist größer, und auch die Demografie unterscheidet sich. Es gibt in Europa mehr Alte", sagt Barrett.
Am meisten aber fällt ein anderer Unterschied ins Gewicht: Die Zahl der betroffenen Fahrzeuge ist ungleich höher. VW zufolge wurden die Abgasmessungen bei 8,5 Millionen Autos in Europa manipuliert - das sind rund 18-mal mehr als in den USA.
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