In vielen Ländern, besonders in Europa, beruhen solche Erzählungen auf Rasse, ethnischer Herkunft, Stammeszugehörigkeit oder einer Erfahrung, die die jeweilige Bevölkerung teilt. In Deutschland etwa galt im 19. Jahrhundert die Schlacht im Teutoburger Wald als identitätsstiftend. Im Jahr 9 nach Christus besiegten die Germanen, angeführt vom Cheruskerfürst Arminius, die Römer und sicherten so ihre Unabhängigkeit und ihr territoriales Hoheitsgebiet.
In Rumänien etwa haben manche die Vorstellung, irgendwie Nachkommen der Römer zu sein. Die irischen Nationalisten des 19. Jahrhunderts versuchten, die Ursprünge des Landes bis zu den Kelten zurückzuverfolgen.
Die USA dagegen waren in dieser Hinsicht immer ein Sonderfall. Ihr Gründungsmythos geht nicht auf eine bestimmte Eigenschaft oder eine Gruppe zurück, sondern er stellt ein einfaches Dokument in den Mittelpunkt: die Verfassung. Um Amerikaner zu sein, reicht es, an die Demokratie zu glauben, die in der Verfassung steht - egal, woher man kommt. Rasse, Religion, ethnische Herkunft: All das ist - dem amerikanischen Narrativ zufolge - unwichtig.
Der Glaube an die Einzigartigkeit, der fahnenschwingende Patriotismus, der Treueeid in den Schulen und die friedlichen Machtwechsel sind Ausdrücke der Überzeugung, dass eine der ältesten Demokratien der Welt allen anderen Staaten etwas voraushat. Und all das beruht auf dem, was die oft zitierten Gründungsväter in die Verfassung geschrieben haben.
Eine groteske Manifestation der wachsenden Verachtung der Demokratie
Einer der großen Schockmomente des bisherigen Präsidentschaftswahlkampfs ist die Erkenntnis, dass der amerikanische Gründungsmythos und die amerikanische Demokratie nicht so robust sind, wie wir dachten. Donald Trump droht beides zu zerstören.
Dabei ist er lediglich eine äußerst groteske Manifestation der wachsenden Verachtung der Demokratie, die in den vergangenen Jahren auf dem rechten Flügel Amerikas entstanden ist. Die Demokratiefeindlichkeit wurde gefördert von einer republikanischen Partei, die etwa Barack Obama nie als den rechtmäßig gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten anerkannt hat. So bezeichnete Trump Obama kürzlich als "den sogenannten Präsidenten".
Trumps Aufstieg ist eine Folge eines republikanisch dominierten Kongresses, der die Regierung lahmlegt, von Radiomoderatoren, die seit Jahren eine Verschwörungstheorie nach der anderen von sich geben und von Tea-Party-Aktivisten, die den demokratischen Konsens lächerlich machen. Bei den Republikanern ist der opportunistische Anti-Intellektualismus mittlerweile so tief verwurzelt, dass jedem, der über eine Art von Expertise verfügt, Argwohn und offene Feindschaft entgegenschlagen - vor allem Journalisten.
Jetzt, nach dem Rückzug einiger führender Republikaner, wird sichtbar, wie weit Trump zu gehen bereit ist. Diese konnten nicht länger ignorieren, dass ihr Kandidat ein Mann ist, der Frauen sexuell belästigt. Nun, wo Trump "frei von allen Fesseln" ist, wie er es selbst ausdrückte, wird klar, dass am 8. November voraussichtlich nicht endet, was er seine "patriotische Bewegung" nennt.
Seine Rhetorik gleicht immer mehr der Sprache in einer Diktatur: Er kündigt an, seine Gegenkandidatin Hillary Clinton einsperren zu wollen, wenn er die Wahl gewinnt. Er spricht davon, dass die Wahl manipuliert sei, dass seine Anhänger die Wahllokale überwachen sollten und dass er "die korrupten Medien" in die Schranken weisen werde. Er wendet sich damit an einen signifikanten Teil der Bevölkerung, der sich von der Führung des Landes im Stich gelassen fühlt. Der sich als Opfer der Globalisierung sieht und bedroht von der demografischen Entwicklung.
Trumps Slogan "Make America Great Again" könnte man so deuten, dass er sich am amerikanischen Gründungsmythos orientiert. Doch vieles von dem, was er sagt, steht im direkten Widerspruch zur Verfassung: sein Plan eines Einreiseverbots für Muslime, die stärkere Überwachung von US-Bürgern und der verschärfte Einsatz von Folter. Tatsächlich ist das "großartige Amerika", zu dem Trump zurück möchte, eines ohne Einwanderer und Schwarze. Er propagiert eine Welt, in der weiße Männer sich nicht mehr mit der kosmopolitischen Vielfalt der USA abfinden müssen, sondern ihre angebliche natürliche Überlegenheit ausleben können.
Trump steht für ein komplett anderes Narrativ der amerikanischen Identität, eines, das auf Rasse und Religion basiert.
"Eine weltumspannende Macht" habe die amerikanische Arbeiterklasse bestohlen
Je länger sein Wahlkampf andauert, umso deutlicher wird, dass das Publikum, auf das Trump abzielt, diese Nachricht verstanden hat. Viele jüdische Journalisten und Intellektuelle haben darauf hingewiesen, dass der offene Antisemitismus in den USA ein Ausmaß erreicht hat, das sie nie zuvor erlebt haben. In sozialen Medien werden ihre Namen mit einer dreifachen Klammer gekennzeichnet, die Twitter-Version des gelben Sterns, den die Nazis benutzten. Trump persönlich verbreitete bei Twitter ein Bild von Clinton vor einem Hintergrund aus Bargeld. Der Spruch dazu, "die korrupteste Kandidatin aller Zeiten", prangte in einem Davidstern.
Das Bild stammt von Rechtsextremen, und es war bei Weitem nicht die einzige Verbindung. Mehrmals hat er unterstützende Tweets des rechtsextremen Aktivisten Jason Bergkamp weiterverbreitet, der für die Webseite Vanguard 14 schreibt. Dort werden nationalistische und volksverhetzende Botschaften propagiert.
Auch am 13. Oktober zeigte Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung in West Palm Beach, Florida, sein wahres Gesicht:"Eine weltumspannende Macht" habe die amerikanische Arbeiterklasse bestohlen, sagte er. Clinton treffe sich heimlich mit Vertretern internationaler Banken und plane die Souveränität der USA zu zerstören. Die Präsidentschaftswahl werde in Wahrheit von einer kleinen Zahl globaler Akteure manipuliert und kontrolliert. Derart antisemitisch gefärbte Behauptungen sind typisch für die alternative Rechte in den USA - und ganz sicher nicht zufällig auf Trumps Teleprompter gelandet. Laut "BuzzFeed" wurde die Rede von Stephen Bannon geschrieben, Trumps Kampagnenchef und normalerweise Chef von Breitbart News. Die Webseite bietet der alternativen Rechten eine Plattform.
Und dann gab es noch Trumps jüngste Äußerungen, Clinton sei während der zweiten TV-Debatte "mit Drogen vollgepumpt" gewesen. Auch hier orientiert er sich an der Sprache von Rechtsextremen. Auf der Webseite Mad World News waren die absurden Vorwürfe schon zuvor erschienen. Es ist die gleiche Webseite, die die rassistische Behauptung verbreitete, Michelle Obama sei eigentlich ein Mann.
Diese Liste könnte man ewig fortführen. Klar ist: Donald Trumps Vision von Amerika orientiert sich nicht an der Verfassung, sondern an der Vorstellung, dass das "weiße Amerika" von allen Seiten unter Beschuss sei und vor dem Establishment gerettet werden müsse. Seine "patriotische Bewegung" ist auf einem identitären Kreuzzug. Sie ist offen für alle, die von einem Amerika träumen, das nicht demokratisch und freiheitlich ist, sondern in dem weiße Männer die Macht zurückerobern.
Trump hat das amerikanisch Narrativ verschoben
Trump hat seine Bewegung bereits für den Fall gerüstet, dass er die Wahl verliert. Indem er Clinton abspricht, eine legitime Kandidatin zu sein, und vorsorglich von einer manipulierten Wahl spricht, bereitet er seine Anhänger darauf vor, den Kampf auch nach dem 8. November fortzusetzen.
Ein kurzer Rückblick: Im Jahr 2000 entschied der Oberste Gerichtshof die Präsidentschaftswahl endgültig zugunsten von George W. Bush. Sein unterlegener Gegenkandidat, der Demokrat Al Gore, sagte nach dem Urteil, er teile die Meinung des Gerichts überhaupt nicht, akzeptiere die Entscheidung aber: "Im Interesse der Einheit unseres Volkes und unserer Demokratie gestehe ich meine Niederlage ein."
Laut Umfragen dürfte Trumps Niederlage nicht annähernd so knapp ausfallen wie jene von Gore. Dennoch werden er und seine Anhänger sie nur als Beweis dafür betrachten, dass die wahren Amerikaner, sprich die Weißen, wieder einmal beraubt wurden. Trump hat das amerikanische Narrativ verschoben: Von einem Land, das sich an der Verfassung orientiert - hin zu einem Heimatland der Weißen. Das wird es ihm unmöglich machen, eine Wahlniederlage einzuräumen.
Deshalb ist es auch kaum vorstellbar, dass seine Anhänger nach der Wahl einfach von der Bildfläche verschwinden. Selbst wenn Trump die Rolle als Führungsfigur ablehnt - seine Bewegung, die Amerika neu definieren will, wird fortbestehen.
Die Geschichte hat gezeigt, dass die Veränderung eines nationalen Mythos eine extrem schwierige und oft blutige Angelegenheit ist. Dies wird das wahre Erbe von Trump sein. Und es mit anzusehen, dürfte furchtbar werden.
Quelle : welt.de
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