Schafft die erste Klasse ab!

  22 Oktober 2016    Gelesen: 491
Schafft die erste Klasse ab!
Eine Studie zeigt: Klassentrennung im Flieger macht Passagiere aggressiv. Doch das Staatsunternehmen Bahn baut die erste Klasse sogar noch aus. In was für einer Zeit lebt der Konzern eigentlich?
Eigentlich bin ich ein sehr regelkonformer Bahnkunde. Ich steige nie ohne gültiges Ticket ein und warte auf dem Bahnsteig selbstverständlich hinter der weißen Linie.

Aber manchmal leiste ich mir ein kleines bisschen Rebellion. Wenn die Wagen der ersten Klasse laut Durchsage in den Abschnitten A bis C halten, gehe ich zu A bis C, irre durch die falschen Waggons und bediene mich demonstrativ unkundig bei den Zeitungen, welche die Bahn für die Entscheider in Schlips und Anzug bereithält. Mit der Lektüre, die mir nicht zusteht, setze ich mich in einen Waggon, in dem ich sie nicht lesen kann: Ein Baby schreit, zwei Reihen weiter hinten telefoniert jemand zu laut, ein Damenkegelklub reicht Eierpunsch herum. Aber immerhin habe ich einen Akt zivilen Ungehorsams gegen die Erstklässler drei Wagen weiter vorn ausgeübt.

Ich reise gerne mit der Bahn, aber jedes Mal wundere ich mich über die Teilung der Fahrgäste nach Besitzverhältnissen. Und noch mehr darüber, wie stillschweigend die Existenz zweier Wagenklassen hingenommen wird.

Immerhin ist die Bahn nicht irgendein Unternehmen, sondern zu 100 Prozent in Bundeshand. Sie gehört uns allen. Was gut so ist: Ein Grundmaß an Mobilität gehört zur Daseinsvorsorge, die der Staat garantieren sollte. Klassendenken und Besserverdienerarroganz zu befördern, kann dagegen nicht Aufgabe des Staats sein. Würde man es etwa akzeptieren, wenn ein Stadtwerk beschlösse, die Straßenlaternen im Villenviertel heller leuchten zu lassen als anderswo?

Vorn Polstersitze, hinten Holzbänke

Die Zahl der Wagenklassen war schon immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung. Im Zeitalter der Industrialisierung zeigten sich die krassen sozialen Gegensätze auch in der Ausstattung der Eisenbahnwaggons: vorn Polstersitze, hinten Holzbänke, ganz hinten nicht einmal mehr die.

Im Jahr 1956 veröffentlichte der Hamburger Politikwissenschaftler Siegfried Landshut in den "Gewerkschaftlichen Monatsheften" einen Aufsatz über die "Auflösung der Klassengesellschaft", in dem er - relativ zeittypisch - eine "unaufhaltsame Entwicklung zur egalitären Einheitsgesellschaft" diagnostizierte: "Im Laufe meines eigenen Lebens habe ich eine eindrucksvolle Demonstration dieses Prozesses erhalten", schrieb er. "Noch als ich aus dem ersten Weltkrieg zurückkam, gab es - wenigstens auf der badischen Eisenbahn - die erste, zweite, dritte und vierte Klasse. Bald danach verschwand die vierte Klasse, und es gab nur noch drei. Auch diese drei Klassen waren schon lange - zumindest seit 1945 - ein überholter Zustand, bevor jetzt auch die dritte Klasse aufgehoben wurde. Und vielleicht erlebe ich es noch, dass schließlich die Eisenbahn nur noch eine Einheitsklasse führt, d. h. dass es eben dann auch auf der Bahn - wenigstens in der westlichen Welt - keine Klassen mehr gibt."

Der Zweck der Erste-Klasse-Fahrten: Geltungskonsum

Die Entwicklung ging dann leider doch nicht so unaufhaltsam weiter, wie man in den fortschrittsoptimistischen Fünfzigerjahren prophezeite. Erklärungsbedürftig ist das vor allem, weil die Komfortunterschiede zwischen den letzten beiden verbleibenden Klassen so verschwindend klein sind. Es geht längst nicht mehr um die Frage: Holz oder Polster? Es geht um allenfalls minimale Gewinne an Beinfreiheit.

In manchen Regionalzügen ist es nur noch die Farbe der Sitzbezüge, die die erste und zweite Klasse trennen - und eine Glastür zwischen den Wagen. Fahrten in der ersten Klasse dienen heute in vielen Fällen nur einem Zweck: Man zeigt damit, dass man es sich leisten kann. Man betont die feinen Unterschiede. Man markiert Status. Es gibt einen Fachterminus dafür: Geltungskonsum.

Ökonomisch geht das nicht immer auf. In den Hamburger S-Bahnen wurde zur Jahrtausendwende die erste Klasse abgeschafft - unter anderem, weil sie mehr kostete, als sie einbrachte. Übersetzt heißt das: Im Zweifel subventionierten hier die Fahrgäste in der zweiten Klasse mit ihren Tickets die vielen freien Plätze in der ersten. Im öffentlichen Personenverkehr herrscht mitunter also Umverteilung von unten nach oben.

Im Fernverkehr, im ICE oder IC, ist die erste Klasse ebenfalls deutlich schlechter ausgelastet als die zweite. Laut Deutscher Bahn waren im vergangenen Jahr im Schnitt 55,7 Prozent der billigen Ränge belegt - aber nur 38,6 Prozent der privilegierten Plätze. Ob sich das Angebot zum Geltungskonsum einer Fahrgastminderheit überhaupt selbst trägt, will das Unternehmen nicht beantworten - "aus Wettbewerbsgründen", wie eine Sprecherin sagt.

Im neuen ICE ist jeder vierte Sitz in der ersten Klasse

Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass die Klassentrennung auch aus anderen Gründen ein Problem für Verkehrsunternehmen sein kann: Katherine DeCelles von der University of Toronto und ihr Kollege Michael Norton von der Harvard Business School fanden heraus, dass Passagiere in Flugzeugen mit First-Class-Bereich häufiger randalieren als in Maschinen mit Einheitssitzen. Ungleichheit macht unzufrieden - zumindest jene in den unteren Klassen. Einem Konzern wie der Bahn mit einem eher schwierigem Image sollte diese Erkenntnis zu denken geben. Noch besser wäre es natürlich, das Unternehmen käme aus demokratischen Bewusstsein auf die Idee, dass irgendetwas an der Klassentrennung problematisch sein könnte.

Doch stattdessen baut die Deutsche Bahn die erste Klasse sogar munter aus: Im Moment sind im Schnitt 16 Prozent der Sitze im Fernverkehr den Privilegierten vorbehalten. Im neuen ICE 4, von dem die Bahn gerade 130 Stück geordert hat, sind sogar 25 Prozent der Plätze für Luxuskunden vorgesehen.

Da wird es also noch einige Zeitungen zum Mitnehmen geben.

Quelle : spiegel.de

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