Und über die Cafés, in denen es Eierschecke gibt. Eierschecke! Wie hat sich Serdar Yüksel damals gefreut, in den Siebzigern und Achtzigern, als die Nachbarn in Wattenscheid Besuch von der DDR-Verwandtschaft bekamen. Sie brachten Eierschecke mit, diesen Schichtkuchen mit Ei und Quark, und der kleine Serdar durfte probieren. Wenn die DDR etwas Gutes hervorgebracht hat, findet Yüksel, dann Eierschecke.
Yüksel mag Bautzen. Dieses Bautzen.
Aber es gibt auch das andere Bautzen. Und wegen dem ist Yüksel eigentlich hier. Im Februar steht der "Husarenhof" in Flammen, ein ehemaliges Hotel, in das bald Flüchtlinge einziehen sollen. Vor dem brennenden Haus johlen die Menschen, manche behindern die Feuerwehr. Als wenig später Joachim Gauck die Stadt besucht, wird der Bundespräsident wüst beschimpft. Immer wieder kommt es zu Angriffen auf Asylbewerber, im September eskaliert die Lage: Jagdszenen auf dem Kornmarkt, der Bürgermeister wird vor laufenden Kameras niedergebrüllt.
Wenn Serdar Yüksel diese Nachrichten aus Bautzen vernimmt, beschleicht ihn das Gefühl, dass Menschen wie er, mit Wurzeln in fremden Ländern, in Teilen Deutschlands an den Rand gedrängt werden sollen. Dass da etwas kippt in Deutschland. In seinem Deutschland. Er ist entsetzt. Und er beschließt, hinzufahren und sich das selbst anzusehen. "Ich mache Urlaub in Bautzen", sagt er. Vier Tage im Oktober, mit den Leuten reden, einfach mal sehen, was da los ist. Es ist auch ein Selbstversuch: Wird man ihn auch anfeinden?
Yüksel, 43, war noch nie in Bautzen. Überhaupt war er erst wenige Male im Osten der Republik, in Dresden, es ist terra incognita. Yüksels Heimat ist der tiefe Westen Deutschlands. 1973 wurde er in Essen geboren, heute wohnt der Sohn eines Gastarbeiters aus der Türkei noch immer im Ruhrgebiet. Seit 2010 sitzt er für die SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen.
Zur Person
Serdar Yüksel, Jahrgang 1973, ist SPD-Politiker aus Nordrhein-Westfalen. Yüksel hat kurdische Wurzeln, sein Vater kam als Gastarbeiter aus dem Osten der Türkei nach Deutschland. Yüksel wurde in Essen geboren, wuchs in einer Familie mit sieben Kindern auf. Er machte den Realschulabschluss, lernte Krankenpfleger, absolvierte ein Fernstudium in Pflegewissenschaft und Gesundheitsmanagement. 1989 trat er in die SPD ein, seit 2010 sitzt er im Landtag von NRW für den Wahlkreis Bochum III - Herne II.
Bundesweite Aufmerksamkeit zog Yüksel vor zwei Jahren auf sich, als er Anzeige wegen Volksverhetzung gegen Nicolaus Fest erstattete, den früheren Vizechefredakteur der "Bild am Sonntag", weil der in einem Kommentar den Islam als "Integrationshindernis" bezeichnet hatte. Fest ist gerade mit viel Tamtam in die AfD eingetreten. Yüksel ist Alevit und bezeichnet sich als nicht sonderlich religiös. "Aber was Herr Fest sich geleistet hat, vergiftet die Stimmung in unserer Gesellschaft."
So wie in Bautzen? Ist die Stimmung hier schon unheilbar vergiftet? Yüksel hat bei Bürgermeister Alexander Ahrens um ein Gespräch gebeten. Aber Ahrens ist im Urlaub, er schickt seinen persönlichen Mitarbeiter Eckart Riechmann. Auch Christian Tiede, Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde St. Petri, stößt dazu.
Riechmann und Tiede machen sich viele Gedanken über Bautzen, über die Flüchtlinge und wie ihnen hier begegnet wird. Die zwei Männer sind, wenn man so will, Repräsentanten des guten Bautzens. Kürzlich haben sie hier "Demokratiewochen" veranstaltet, die Initiative "Bautzen bleibt bunt" stellt sich der dumpfen Ablehnung von Fremden gegenüber.
Aber ist das die Mehrheit? Riechmann sagt: "Es gibt hier eine funktionierende Bürgergesellschaft. Aber die große Mehrheit schweigt." Dann fügt er leise hinzu: "Ich bin mir der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr sicher. Wenn ein Flüchtling zusammengeschlagen wird, weiß ich nicht, wie die anderen reagieren." Manchmal werde er von wütenden Bürgern angerufen. "Die schreien mich schon mit dem ersten Wort an." Riechmann nennt das "Meinungseskalation", ein Dialog sei kaum noch möglich.
Theologe Tiede ist "entsetzt, dass Leute uns anbrüllen, aber jeden Diskurs verweigern". Zuletzt habe er häufiger in seinen Predigten Pegida kritisiert. "Als ich mich am Ausgang von den Gottesdienstbesuchern verabschiedete, haben mich manche regelrecht beschimpft. Ich war sprachlos und habe ihnen nur noch hinterhergeschaut." Tiedes bitteres Fazit: "Auch der Raum Kirche hält Leute inzwischen nicht mehr davon ab, in ihrer Sprache fäkal zu werden." Leute würden verbal niedergemacht. Er nennt es "blankziehen".
"Am Anfang standen hier die Nazis vor dem Zaun"
Yüksel will mit Flüchtlingen sprechen und sie nach ihren Erfahrungen fragen. "Spree Hotel" heißt das Heim am Stadtrand. Vor zweieinhalb Jahren machte Peter Rausch, 58, aus seiner Konferenzherberge eine Flüchtlingsunterkunft. Der Schwarzwälder kam vor 17 Jahren nach Bautzen, das Geschäft lief schlecht, der Hotelier sah in dem Heim auch eine Möglichkeit, wirtschaftlich zu überleben.
"Die Leute machen mir das zum Vorwurf", sagt Rausch. "Aber was ist falsch daran, aus der Not eine Tugend zu machen?" Er hätte aber selbst nicht geahnt, dass ihm die Arbeit als Heimleiter so viel Spaß machen würde. Er wohnt selbst in der Unterkunft, die Flüchtlinge schätzen ihn als zugewandten, hilfsbereiten Mann, auch die Verantwortlichen der Stadtverwaltung finden nur lobende Worte für ihn.
Rausch sitzt an seinem Schreibtisch, raucht eine Zigarette nach der anderen und blickt gelegentlich auf den Monitor vor ihm, der die Bilder Dutzender Überwachungskameras zeigt. "Am Anfang standen hier die Nazis vor dem Zaun", sagt er. "Aber jetzt ist es ruhig." Morddrohungen habe er erhalten, in manchen Bautzener Läden sei er unerwünscht. "Ich würde dem Ruf schaden und solle bitte nicht mehr kommen, hat man mir gesagt."
Yüksel lässt sich das Heim zeigen, er fragt die Menschen, ob sie Kontakt zu Einheimischen hätten. Alle verneinen. Yüksel schüttelt ernüchtert den Kopf. Rausch erzählt, dass einige der Flüchtlinge inzwischen in Mietwohnungen lebten, nebenan, im Viertel Gesundbrunnen. Es gibt dort zwei rechte Kameradschaften, aber Rausch sagt, die Flüchtlinge fühlten sich dort ganz gut, es gebe keinen Ärger. "Wenn das mal gut geht", sagt Yüksel mehr zu sich selbst.
Später trifft er in der Bahn einen jungen Syrer. Er lebt seit einem Jahr in Bautzen, geht zur Schule und spricht schon bemerkenswert gut Deutsch. "Hast du deutsche Freunde?", fragt Yüksel. "Nur Bekannte", sagt der 16-Jährige. "Und haben dich die Lehrer schon mal nach deiner Heimat oder nach deiner Flucht gefragt?" Nein, sagt der Syrer. "Nie."
Woher kommt diese Distanz, diese Ignoranz, diese Ablehnung? Ein Bautzener SPD-Parteifreund Yüksels glaubt eine Erklärung zu haben: In der Schule gebe es keine politische Bildung mehr. Die DDR sei so politisiert gewesen, dass die Lehrer heute nichts mehr mit Politik zu tun haben wollten. "Damals war es ein Extrem, und jetzt schwingt das Pendel in die andere Richtung, in ein anderes Extrem", sagt der Genosse.
Zu wenig Bildung, zu wenig Kontakt mit den Flüchtlingen, Unwissenheit, all das macht Yüksel als Problem aus an seinem verlängerten Wochenende in Bautzen. In einem Wort: Desinteresse.
"Reichsbürger" werben auf dem Markt
Er geht noch einmal zum Kornmarkt, wo sich vor Wochen junge Flüchtlinge und Ausländerfeinde beschimpften und bekämpften. Vielleicht, denkt Yüksel, trifft er dort auf ein paar Rechte, die er befragen kann. Auf der schmucklosen Betonplatte am Rande der Altstadt tragen auffallend viele junge Männer Flecktarnhosen. Ist das einfach nur Mode hier, fragt sich der SPD-Politiker. Oder Ausdruck einer Gesinnung? Eine Antwort bekommt Yüksel nicht, keiner will reden.
Umso mehr dafür eine ältere Frau, sie verteilt Broschüren der "Reichsbürger", die einen Stand auf dem Kornmarkt aufgebaut haben. Es sprudelt aus ihr heraus: "Wir erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht an. Der Zweite Weltkrieg ist offiziell noch nicht vorüber, weil es keinen Friedensvertrag gibt." Ziel sei es, dass die Menschen sich "entnazifizieren". "Sie können an den Moskauer Generalstaatsanwalt schreiben und um Ihre Entnazifizierung bitten", rät sie Yüksel. Sollte dann "der Alliierte", wie sie Russland nennt, eines Tages kommen und Deutschland befreien, könnten alle, die um "Entnazifizierung" gebeten hätten, mit Vorteilen rechnen.
Yüksel hört zu und lässt sich nicht anmerken, was er denkt. "Woher kommen Sie?", fragt die Frau schließlich. "Ich bin Deutscher, aber ich habe kurdische Wurzeln." - "Na sehen Sie, dann verstehen Sie, dass jedes Volk frei sein will." Sie grinst und sagt: "Sie Ausländer verstehen das besser als so mancher Deutscher."
Quelle : spiegel.de
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