Zu früh gefreut

  01 November 2015    Gelesen: 453
Zu früh gefreut
Der Jubel über den Friedensnobelpreis hat in Tunesien nicht lange gewährt. Die Demokratie ist gesichert, aber es fehlen soziale Rechte und Folter nimmt wieder zu.
"Am Freitag hat das Nobelkomitee seine Entscheidung bekanntgegeben – und am Montag waren wir schon wieder im alltäglichen politischen Hickhack gefangen, als hätte es sich bei dem Preis nur um einen unbedeutenden Zwischenfall gehandelt." Mokhtar Trifi, der Ehrenvorsitzende der tunesischen Menschenrechtsliga, kann seine Enttäuschung darüber nur schwer verbergen, dass der Friedensnobelpreis für vier Institutionen, die für die Demokratie kämpfen, in seinem Land nicht angemessen gewürdigt worden ist. Tunesiens Staatspräsident Béji Caïd Essebsi hat eine kurze Rede gehalten, doch es war Frankreichs Präsident François Hollande, der als erster das sogenannte Dialogquartett empfangen hatte, das am 10. Dezember in Oslo den Preis in Empfang nehmen wird. "Als sei es ein französisches Quartett gewesen", klagt Trifi.

Die Auszeichnung für den tunesischen Gewerkschaftsverband, die Unternehmervereinigung, die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer sehen die meisten Tunesier nicht nur als Preis für die tunesische Zivilgesellschaft, sondern in erster Linie als geopolitisches Symbol. Denn Tunesien ist das einzige Land der Region, das nach dem sogenannten arabischen Frühling nicht im Bürgerkrieg versunken oder zurück in autoritäre Strukturen gefallen ist.

Dabei stand im Sommer 2013 der demokratische Wandel auch in Tunesien kurz vor dem Aus: zwei linke Oppositionspolitiker waren ermordet worden, die Arbeit des Parlaments lag auf Eis, die Verfassung ließ auf sich warten und die Opposition forderte den Rücktritt der Regierung. Deren stärkste Kraft, die islamistische Ennahda-Partei, hatte Angst, wie die Muslimbrüder in Ägypten wieder in den Gefängnissen zu landen, aus denen sie erst durch die Revolution zwei Jahre zuvor entkommen waren. Damals hat es das Quartett in monatelangen zähen Verhandlungen, dem sogenannten Nationalen Dialog, geschafft, die politischen Kräfte an einem Tisch zu versammeln und sie zu einem Kompromiss zu bewegen.

Zwei Jahre später hat das Land eine demokratische Verfassung und mit Ennahda und dem bürgerlichen Sammelbecken Nidaa Tounes sind nach freien Wahlen im vergangenen Herbst zwei der ehemaligen Widersacher gemeinsam an der Regierung. Doch die Herausforderungen sind 2015 nicht geringer geworden. Die zwei Attentate auf ein Museum in Tunis und ein Hotel in Sousse, bei denen mehr als 60 Menschen starben, haben Spuren hinterlassen; die wirtschaftliche Lage hat sich seit dem Umbruch 2011 ebenfalls verschlechtert.

Der nationale Dialog habe Tunesien vor zwei Jahren gerettet, sagt die Politikwissenschaftlerin Helá Yousfi. "Aber der Friedensnobelpreis dafür kommt zu einer Zeit, in der der demokratische Wandel bedroht ist und vom Weg, den die Verfassung vorgibt, abweicht." Denn Tunesien befindet sich knapp fünf Jahre nach dem Aufstand in einer schwierigen Phase. Nach so wichtigen Schritten wie der neuen Verfassung und den freien Wahlen geht es jetzt darum, die demokratischen Errungenschaften zu festigen. Doch "die notwendigen Gegengewichte für eine lebensfähige Demokratie wurden noch nicht geschaffen", erklärt Yousfi. Nach wie vor hat das Land zum Beispiel kein Verfassungsgericht. Viele Gesetze, die im Widerspruch zum neuen, liberalen Verfassungstext stehen, sind nach wie vor in Kraft. So wurde im September ein Student nach einer Rektaluntersuchung wegen Homosexualität zu einem Jahr Haft verurteilt. Justizminister Mohamed Salah Ben Aïssa, der sich für die Anpassung der Gesetze an die Verfassung stark machte, wurde vor wenigen Tagen entlassen. Sein Engagement für die Straffreiheit von Homosexualität, "habe dabei auch eine Rolle gespielt", räumte das Präsidialamt ein.

Währenddessen gibt es wieder mehr Fälle von Folter in Gefängnissen und auf Polizeiwachen, die Aufarbeitung der Diktatur kommt nur schleppend voran und ein Gesetzesentwurf zur wirtschaftlichen Aussöhnung sieht Straffreiheit für korrupte Geschäftsleute und bestechliche Beamte aus der Zeit der Herrschaft von Ex-Präsident Ben Ali vor. Alles spürbare Rückschritte.

Auf Tunesien ruhen dennoch die Hoffnungen der USA und Europas. "Wenn man sich die Reden im Westen anhört, dann hat man den Eindruck, dass sich die Regierenden in Tunis der Herausforderungen durchaus bewusst sind. Aber wenn die ganzen Glückwünsche erst verklungen sind, dann mangelt es an Taten", kritisiert Trifi, der die Menschenrechtsliga die letzten elf Jahre unter der Diktatur Ben Alis leitete. "Es wurde uns viel versprochen und wenig umgesetzt."

Tags:  


Newsticker