Es wird einsam um Europa

  10 November 2016    Gelesen: 625
Es wird einsam um Europa
Trump im Weißen Haus, Putin im Kreml, Erdogan in Ankara, Rechtspopulisten in vielen europäischen Ländern: Der EU-Führung drohen die Partner auszugehen - mitten in einer historischen Krise der Union. Was jetzt?
Auf die Europäische Union kommt jetzt das zu, was Amerikaner als "perfect storm" bezeichnen. Mehrere Ereignisse, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben, vereinigen sich und entwickeln eine verheerende Dynamik:

Russlands Präsident Wladimir Putin betreibt eine mit Gewalt und aggressiver Propaganda unterlegte Expansionspolitik.

Die Türkei verwandelt sich unter Präsident Erdogan in eine Diktatur.

Populisten haben Großbritannien aus der EU getrieben; in Polen, Ungarn und womöglich auch bald anderswo sind sie schon an der Macht.

Und jetzt auch noch Donald Trump.

Am Tag nach der US-Wahl herrschte in Europa eine Mischung aus Unglaube und Verzweiflung, nur spärlich kaschiert von floskelhaften Gratulationsadressen in Richtung Washington. Kanzlerin Angela Merkel stellte ihre Zusammenarbeit mit Trump gar unter den Vorbehalt der Einhaltung von Grundwerten. Eine deutsche Regierungschefin ermahnt den frisch gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde zu achten. Normalerweise wäre das ein unerhörter Vorgang.

Doch normal scheint derzeit kaum noch etwas zu sein - weder im Verhältnis Europas zu den USA noch anderswo. Die aktuellen Geschehnisse in der Türkei etwa wären ohne Trump vermutlich das Thema Nummer eins in der EU. Ausgerechnet das Land, das angesichts des Bürgerkriegs in Syrien eine Schlüsselrolle für Europas Sicherheit spielt, droht in eine Diktatur abzugleiten. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU stehen vor dem Aus, der Flüchtlingspakt droht zu platzen. Derweil macht der türkische Präsident Erdogan glänzende Geschäfte mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin und will mit ihm über ein Raketenabwehrsystem sprechen.

Mit Trump zieht nun sogar ein Putin-Bewunderer ins Weiße Haus ein. Der künftige US-Präsident hat den Kreml-Autokraten mehrfach als führungsstark gelobt und versucht, ihn vom Verdacht der Einflussnahme auf den US-Wahlkampf freizusprechen - obwohl die amerikanischen Geheimdienste davon überzeugt sind. Dass Trump zugleich die europäischen Nato-Partner für den militärischen Schutz der USA zur Kasse bitten will und sogar die Bündnistreue seines Landes infrage gestellt hat, hat insbesondere in Osteuropa Ängste ausgelöst.

Trump, der Einiger Europas?

Wenn EU-Politiker überhaupt etwas Positives in Donald Trumps Präsidentschaft sehen, dann dieses: Trump könne zur Einigung Europas beitragen, wenn auch unfreiwillig. Denn das Problem ist nicht nur, was Trump während des Wahlkampfs gesagt hat - sondern mindestens ebenso sehr, was er nicht gesagt hat. Bisher hat der künftige US-Präsident nichts präsentiert, was auch nur ansatzweise als kohärente außenpolitische Agenda bezeichnet werden könnte.

"Unter Amerikas Verbündeten wird sich Angst verbreiten", sagte der US-Politikwissenschaftler James Goldgeier der "New York Times". "Und manche werden etwas dagegen unternehmen." Von Russland bedrohte Staaten in Osteuropa könnten es sich möglicherweise nicht leisten, darauf zu warten, dass Trump präzisere Pläne vorstellt - falls er das überhaupt jemals tun wird. Denn im Wahlkampf hatte der Geschäftsmann stets betont, wie gut es sei, in der Außen- und Sicherheitspolitik "unberechenbar" zu sein.

"Der amerikanische Schirm über Europa ist für immer weggezogen"

"Josef Stalin war der erste Einiger Europas", sagt Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments. "Trump hat in gewisser Weise die Chance, der zweite zu werden." Natürlich könne man Trump nicht mit einem Massenmörder wie Stalin vergleichen. "Aber Angst kann zu Einigung führen, und in diesem Fall ist es die Angst davor, dass Amerika nicht mehr da ist."

Für EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker scheint das schon ausgemacht zu sein. Die Amerikaner "werden nicht auf Dauer für die Sicherheit der Europäer sorgen", sagte Juncker am Mittwochabend in einer Europarede in Berlin. "Das müssen wir schon selbst tun." Der frühere US-Botschafter John Kornblum formulierte es in einem Zeitungsbeitrag noch deutlicher: "Der amerikanische Schirm über Europa ist für immer weggezogen. Trumps Wahl markiert das Ende der Nachkriegswelt."

Juncker fordert nun einen "neuen Anlauf in Sachen europäischer Verteidigungsunion bis hin zu dem Ziel der Einrichtung einer europäischen Armee." Auch Brok sprach sich dafür aus, die deutsch-französischen Vorschläge in Richtung einer Verteidigungsunion zügig umzusetzen. Ähnlich äußerte sich Daniela Schwarzer von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Selbst wenn Trump nicht alles umsetze, was er im Wahlkampf angekündigt habe, "können sich Deutschland und Europa nicht mehr wie üblich auf die transatlantische Partnerschaft verlassen, sondern müssen selbst für westliche Werte einstehen".

Das aber wäre schon schwer genug, wenn die EU in guter Verfassung wäre. Doch mit Großbritannien verliert die Union ihre zweitgrößte Volkswirtschaft und ein Mitglied mit ständigem Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Die wirtschaftliche Entwicklung ist nach wie vor wacklig, und zugleich erstarken in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Deutschland die Rechtspopulisten. In Ungarn und Polen sind sie bereits an der Macht. Die polnische Regierung etwa bedroht nach Ansicht der EU-Kommission inzwischen jene Grundwerte, die Merkel gegenüber Trump angemahnt hat.

Schon geht in Brüssel die Angst um, dass es in der EU genauso kommen könnte wie in den USA - denn in ihren beiden wichtigsten Staaten finden nächstes Jahr Wahlen statt. Hat Frankreich demnächst eine Präsidentin Marine Le Pen, Deutschland eine Bundeskanzlerin Frauke Petry? Unvorstellbar, sicher. Aber für unvorstellbar hielten viele bis vor Kurzem auch einen US-Präsidenten Donald Trump.

Die Wut vieler Wähler auf Institutionen und Establishment, die Trump an die Macht gespült hat, spürt man auch in der EU-Zentrale. Doch die Frage, wie dem zu begegnen sei, ruft meist Ratlosigkeit hervor. "Ich weiß nicht, ob man Misstrauen gegenüber Brüssel in den Griff kriegen kann", sagt Rebecca Harms, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Die Proteste speisten sich nicht nur aus dem Denken von Globalisierungsverlierern, sondern auch aus dem Wunsch nach einer Rückkehr zur nationalen Identität - linkes und rechtes Gedankengut vermische sich. "Im Moment", sagt Harms, "bin ich nur verunsichert."

Quelle : spiegel.de

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