Putins Genosse oder Anti-Dopingkämpfer
Die Indizienkette, die der kanadische Rechtsprofessor Richard McLaren und sein Team nun in London vorgelegt haben, ist erdrückend: In Russland gab oder gibt es ein bis ins Detail ausgeklügeltes, institutionalisiertes und staatlich gelenktes Dopingsystem. Über 1000 Sportler sollen davon über Jahre hinweg profitiert haben, quer durch alle Disziplinen bis hinein in den paralympischen Sport. McLaren sieht darin sogar nur einen kleinen Ausschnitt, dessen was in Russland praktiziert wurde. Seine ernüchternde Erkenntnis: "Das ganze Ausmaß werden wir wohl nie erfahren." Doch die nun veröffentlichten Enthüllungen reichen schon völlig aus, um das ganz große Rad der Bestrafung zu drehen, bis hin zur Ultima Ratio, einer Kollektivsperre für alle Athleten des Landes.
Der "Hühnchen-Weg" geht nicht mehr
Eine voreilige Entscheidung wird das IOC nicht treffen. Dafür ist es nicht bekannt – und das ist auch gut so. Entscheidungen aus einer Emotionalität heraus sind selten die besten. Aber – und das berührt den sensiblen Kern dessen, was nun kommen muss – es braucht eine Entscheidung, es braucht angemessene Sanktionen. Und angesichts dessen was das russische System dem Sport an sich angetan hat, wird ein ehrliches IOC nicht umhin kommen, Härte zu zeigen. Gänzlich anders noch, als vor den Olympischen Spielen, als das Komitee das Startrecht russischer Athleten nur allzu bereitwillig in die Verantwortung der damit teilweise überforderten Einzelverbände legte. Diesen feigen Hühnchen-Weg können Bach und Co. jetzt qua gesetzter Amtsverantwortung nicht mehr gehen. Nun gilt: Ihre Entscheidung. Ihre Konsequenzen.
Der Druck, der auf dem IOC lastet ist immens. Anti-Dopingkämpfer und (vermeintlich) saubere Sportler aus aller Welt werden die Maximalstrafe, den Komplettausschluss Russlands für kommende Großereignisse, fordern, oder haben das bereits getan. Eine nachvollziehbare Forderung, der das IOC womöglich schneller nachkommen würde, wäre der Einfluss Russlands auf das Komitee und den Weltsport nicht so immens. So gilt Staatspräsident Wladimir Putin beispielsweise als guter Freund von Bach. Dass sich das IOC im Juli weigerte, den Scharfrichter über den russischen Olympia-Bann zu geben, wurde international als kleine Gefälligkeit unter den Alphatier-Buddies interpretiert. Doch nicht nur mit Bach hat sich Putin bestens vernetzt, in vielen großen Sportverbänden besetzen seine Vertrauten wichtige Positionen.
Mächtiges Russland
Alischer Usmanow, einer der reichsten Russen, ist Präsident des Welt-Fechtverbandes FIE und Anteilseigner des Fußballklubs FC Arsenal. Igor Makarow ist Gründer und Geldgeber des russischen Radrennstalls Katjuscha und angeblich Unterstützer des UCI-Präsidenten Brian Cookson. Russland hat derzeit drei IOC-Mitglieder, nur die Schweiz und Großbritannien kommen auf vier. Der Schwimm-Weltverband Fina ehrte Putin 2014 mit dem höchsten Orden, kurze Zeit nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine. Im Judo-Weltverband IJF ist Putin, einst selbst Judoka, Ehrenpräsident. Boss des Verbandes ist der Österreicher Marius Vizer, ein enger Vertrauter des Kreml-Chefs. Der Energie-Riese Gazprom gehört zu den Hauptsponsoren von Fifa und Uefa. Das Netz ist fein, weit verzweigt und mächtig. Wer sich gegen Russland stellt, stellt sich ein stückweit gegen sich selbst - und muss sich somit auch deren Verschwörungstheorien gegen McLaren-Report widersetzen.
Thomas Bach hat das spätestens am Donnerstag, am Tag vor McLaren Teil zwei, getan. Ob aus ehrlichen Motiven gegenüber dem sauberen Sport oder aus Naivität, dass der McLaren-Bericht keine neuen Erkenntnisse über das Ausmaß des Staatsdopings liefert: Der IOC-Chef hat sich den Weg zurück verbaut. Er hat sich endlich einmal selbst in die Pflicht genommen. Auf dem Spiel stehen jetzt die Glaubwürdigkeit der obersten Hüter des olympischen Gedankens und seine innige Freundschaft zum russischen Präsidenten. Endlich ernstzunehmender Anti-Dopingkämpfer oder doch bloß weiter guter Genosse Putins?