Die Bilder dieses Augenblicks kursieren in Rumänien derzeit als satirische Videoschnipsel in sozialen Netzwerken, zusammengeschnitten mit Aufnahmen der gegenwärtigen rumänischen Machthaber. Denn auch sie haben zu Jahresanfang Löhne und Renten erhöht. Und auch sie sind zutiefst fassungslos angesichts der Massenproteste gegen ihre Regierung.
Hunderttausende hatten in den vergangenen Tagen demonstriert gegen das Vorhaben der Regierung, die Antikorruptionsgesetzgebung zu entschärfen. Ein neues Dekret sah vor, dass Amtsmissbrauch und Korruption unter einem Schadenswert von umgerechnet rund 45.000 Euro keine Straftat mehr darstellen sollten. Eine "Legalisierung von Diebstahl durch Beamte und Politiker" nannten Kommentatoren den Erlass.
Am Wochenende zog das Kabinett unter Ministerpräsident Sorin Grindeanu das Dekret vorläufig zurück. Daraufhin gingen am Sonntag nicht weniger Menschen auf die Straße - sondern noch einmal deutlich mehr. Bis zu 500.000 Bürger sollen im ganzen Land gegen die Regierung demonstriert haben, schätzen rumänische Medien. Die Hälfte ging in Bukarest auf die Straße. Denn viele glauben, dass die Machthaber ihr Vorhaben durch ein Hintertürchen doch noch umsetzen wollen. Sie fordern deshalb den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen.
Empörung im Land völlig unterschätzt
Es sind die größten Demonstrationen seit dem Ende der Diktatur 1989. Rumäniens großer Strippenzieher und derzeitiger De-facto-Herrscher Liviu Dragnea, der Chef der "Sozialdemokratischen Partei" (PSD), sieht darin eine Verschwörung. Die Kundgebungen seien "aus dem Hintergrund" und viel zu professionell organisiert, um spontan zu sein, sagte Dragnea am Sonntagabend. Die staatlichen Institutionen müssten aufklären, wer dahinterstecke.
Schon in den Tagen zuvor hatten er und Parteikollegen zahlreichen Personen und Gruppen vorgeworfen, die Bevölkerung aufzuhetzen und das Land zu spalten - wahlweise wandten sie sich gegen regierungskritische Journalisten, Staatspräsident Klaus Johannis, den Börsenspekulanten George Soros, Nichtregierungsorganisationen und Manager ausländischer Banken in Rumänien.
In Wirklichkeit scheinen die Machthaber im Land das Ausmaß der öffentlichen Empörung über korrupte Politiker und Beamte völlig zu unterschätzen.
Einerseits gingen manche rumänische Behörden, darunter die Antikorruptionsanwaltschaft DNA, in den vergangenen Jahren konsequent gegen Korruption vor - Hunderte hoher Politiker und Beamter mussten ins Gefängnis, viele Vermögen wurden konfisziert.
Andererseits häuften sich die Versuche, die Antikorruptionsgesetzgebung zu verwässern oder die Antikorruptionsbehörden zu diskreditieren. So etwa läuft in einigen rumänischen Medien seit Monaten eine Hetzkampagne gegen die DNA-Chefin Laura Codruta Kövesi - sie soll ihre Doktorarbeit plagiiert haben und willkürliche Ermittlungen führen. Urheber der Kampagne ist der vor Kurzem untergetauchte Medienmogul Sebastian Ghita, der wegen Geldwäsche und Erpressung mit internationalem Haftbefehl gesucht wird.
Zugleich kommen gerade wegen des konsequenten Vorgehens gegen korrupte Politiker immer wieder dreiste Fälle von Korruption ans Licht. Beispiel: der PSD-Chef Liviu Dragnea. Jahrelang war er einer der mächtigsten "Lokalbarone" Rumäniens. Der Ingenieur amtierte im südrumänischen Kreis Teleorman als Präfekt und Kreisratschef, er besitzt dort viel Land und zahlreiche Immobilien. Mehrfach wurde gegen Dragnea wegen betrügerischer Privatisierung, Mauscheleien bei öffentlichen Ausschreibungen und Urkundenfälschung ermittelt. Im April vergangenen Jahres wurde er wegen Wahlfälschung zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, ausgesetzt auf Bewährung. Derzeit laufen gegen ihn Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs - mit seinem Wissen sollen Beamte im Kreis Teleorman Gehälter für fiktive Arbeitsstellen kassiert haben.
Dragneas Fall ist archetypisch für Rumäniens politische Elite. Zwar gilt seine Partei, die PSD, als das Symbol für parteipolitische Korruption schlechthin - immerhin stellt sie mit Adrian Nastase einen ehemaligen Regierungschef, der wegen Korruption ins Gefängnis musste, und mit Victor Ponta einen Ministerpräsidenten, der während seiner Amtszeit wegen Korruption vor Gericht gestellt wurde. Doch ähnliche Fälle finden sich auch in allen anderen Parteien.
Wenn nur noch Alte und Kinder im Dorf bleiben
Den Kontrast zu einer politischen Elite, die häufig auf unsaubere Weise zu Ämtern und Reichtum gelangt ist, bildet die überwiegend bittere soziale Realität im Land: Rumänien ist nach Bulgarien das zweitärmste EU-Mitglied, ein Großteil der Menschen lebt in prekären Verhältnissen.
Mehr als drei Millionen Rumänen, rund ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung, arbeiten im Ausland, weil sie sich und ihre Familien zu Hause nicht ernähren können. In ganzen Landstrichen wohnen deshalb vor allem Alte und Kinder, die von den Überweisungen ihrer Angehörigen im Ausland leben. Durch die Abwanderung vieler gut Ausgebildeter hat sich die Qualität der öffentlichen Gesundheitsversorgung in den vergangenen Jahren stark verschlechtert, auch an Schulen und Universitäten mangelt es zunehmend an Fachkräften.
Der Exodus aus Rumänien ist inzwischen so dramatisch, dass er im Land eine regelrechte Gegenbewegung erzeugt hat. Viele junge Leute, darunter auch Eltern, wollen keine neue Existenz im Ausland aufbauen, sondern zu Hause in transparenten, rechtsstaatlichen Verhältnissen leben. Das ist auch bei den derzeitigen Protesten immer wieder zu spüren. Eine der Losungen, die die Demonstranten den Machthabern zurufen, lautet: "Wir bleiben hier! Verschwinden sollt ihr!"
Quelle : spiegel.de
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