Ein rätselhafter Patient

  02 April 2017    Gelesen: 1273
Ein rätselhafter Patient
Ein Mann hat jahrelang Schmerzen im Knöchel. Er hat den Verdacht, dass die Beschwerden mit einem Vorfall zu tun haben, der fast 50 Jahre zurückliegt. Röntgenaufnahmen bestätigen die Vermutung.
Als sich der Mann in der Orthopädie der Universitätsklinik Laval im kanadischen Quebec vorstellt, hat er schon seit mehreren Jahren Schmerzen in seinem rechten Knöchel. Wann immer er sich nur leicht stößt, tut ihm der Fuß weh. Und seitdem ihm jemand versehentlich einen Einkaufswagen gegen den rechten Fuß gefahren hat, lassen ihn die Schmerzen gar nicht mehr los.

Der 63-Jährige vermutet, dass die Beschwerden mit seiner Schussverletzung in der Jugend zu tun haben könnten. Zumindest berichtet er den Ärzten, ihm habe jemand, als er 14 Jahre alt war, eine 22-Kaliber-Bleikugel in den rechten Knöchel geschossen. Das Projektil sei dabei im Gelenk zersplittert und die Chirurgen hätten so viele Kugelteile wie möglich herausoperiert, aber offenbar nicht alle erwischt.

Bei der Untersuchung kann der Patient seinen rechten Fuß in alle Richtungen bewegen. Auch passive Bewegungen tun ihm nicht weh. Sobald er das Gelenk aber belastet, hat er Schmerzen.

Zerstörung im Gelenk

Auf Röntgenaufnahmen entdecken die Ärzte um die Orthopädin Larissa Laflamme, die im "Journal of Foot and Ankle Surgery" über ihren Patienten berichtet, tatsächlich Metallfragmente. Daneben sind auch deutliche Zeichen für Entzündungen im Gelenk zu sehen. Probeweise passen sie dem Patienten eine Schiene an, die das Gelenk stabilisieren soll. Außerdem spritzen sie ihm entzündungshemmende Kortikoide.

Als sich nach dreieinhalb Monaten für den Patienten nichts verändert hat, machen Radiologen Computertomografie-Aufnahmen des Gelenkes. Darauf erkennen sie die Metallsplitter, Entzündungszeichen und eine langsame Zerstörung des Gelenks. Nun messen sie auch die Bleikonzentration im Blut des Patienten. Sie liegt zehnfach höher als der Grenzwert.

Damit steht für die Ärzte fest: Der Mann muss zum einen Medikamente bekommen, die die Bleikonzentration in seinem Blut senken. Zum anderen müssen die Kugelfragmente aus seinem Gelenk entfernt werden. Das Schwermetall ist hochgiftig für den Menschen und kann Bluthochdruck, Darmkrämpfe und schwere neurologische Schäden verursachen.

Bislang hat der Patient lediglich selten auftretende Kopfschmerzen und Durchfälle. Die Ärzte mutmaßen, dass die Bleikonzentration über die Jahre so langsam gestiegen ist, dass er darunter kaum leidet. Sie befürchten, dass eine weitere leichte Erhöhung von einem ohnehin schon hohen Wert aber plötzlich Beschwerden machen könnte.

Blei ausschwemmen

Sie beginnen eine Therapie mit einem sogenannten Chelatbildner. Diese Arznei bildet mit Blei Komplexe, sodass das Metall mit dem Urin über die Niere ausgeschieden werden kann. Dadurch sinkt die Bleikonzentration im Blut deutlich und die Ärzte operieren ihren Patienten.

Mit einem Arthroskop können die Chirurgen in das Gelenk schauen und mit einer winzigen Zange das größte Bleistück entfernen. Andere Splitter sehen sie zwar, kriegen sie aber nicht zu fassen. Entzündetes Gewebe entfernen sie so weit wie möglich, aber auch die Knochen und Knorpel sind stark angegriffen. Zwei Wochen darf der Mann seinen Fuß nicht bewegen, dann beginnt er mit einer langsamen Belastung. Alles scheint gut zu verlaufen.

Doch weitere zwei Monate später leidet der Mann erneut unter starken Schmerzen im Knöchel. Auch die Bleiwerte in seinem Blut sind wieder deutlich gestiegen. Wieder versuchen es die Ärzte mit Kortikoid-Spritzen und Physiotherapie, aber keins von beidem zeigt Wirkung.

Letzter Ausweg: Gelenkversteifung

Kontrollaufnahmen des Sprunggelenks zeigen allerdings, dass die Entzündung weiter fortschreitet. An diesem Punkt entscheiden die Ärzte gemeinsam mit dem Patienten, das Gelenk dauerhaft zu versteifen. Die Idee dahinter ist, das Gelenk zu entlasten und dem Mann so die Schmerzen zu nehmen. Außerdem, so die Hypothese der Autoren, würde sich die Gelenkflüssigkeit reduzieren, wodurch auch weniger Blei aus dem Gelenk in die Blutbahn gelangen könne.

Nach erneuter Chelatbildnertherapie verläuft die Operation komplikationslos. Drei Schrauben verbinden jetzt verschiedene Knochenanteile und unterbinden so die Bewegung.

Einige Wochen nach dem Eingriff bekommt der Mann zunächst einen speziellen Laufstiefel. Insgesamt drei Monate nach der OP darf er das Gelenk wieder normal belasten. Schmerzen hat er nun nicht mehr, und trotz der eingeschränkten Beweglichkeit kann er wieder gärtnern und mit seiner Frau spazieren gehen. Seine Bleiwerte liegen zwar noch immer deutlich über dem Normalwert, sind aber doch niedriger als vor Beginn der Therapie.

Die Autoren schreiben: "Unser Fall zeigt, wie wichtig es ist, nach einer Schussverletzung sofort alle Kugelteile zu entfernen, um Komplikationen wie eine Bleivergiftung und schwere Gelenkentzündungen zu vermeiden."

Quelle : spiegel.de

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