Ein Bezirk nach dem anderen erscheint auf der Leinwand. In einigen Regionen in Anatolien haben über siebzig Prozent der Menschen mit Ja gestimmt, in einigen kurdischen Regionen über siebzig Prozent mit Nein. Bei den Bezirken mit Nein-Mehrheit wird laut geklatscht und gejubelt. Noch ist die Stimmung verhalten optimistisch. Serpil hofft, dass die Regionen mit den vielen Nein-Stimmen ganz am Schluss kommen. Izmir, Istanbul, der Vorsprung der Ja-Stimmen schmilzt, aber dann ist es vorbei.
"Jetzt hat Erdogan alles in der Hand"
Kenan Kolat, Vorsitzender des oppositionellen CHP-Bundes, schwört die Anwesenden darauf ein, trotz dieser Niederlage weiterzuarbeiten für die Demokratie in der Türkei. Menschen umarmen einander, rollen Türkei-Fahnen zusammen. Melisa weint. „Jetzt hat Erdogan alles in der Hand und wird all das, was Atatürk geschaffen hat, zerstören“ sagt die junge Frau aus Steglitz. Senol geht Richtung Ausgang: „Ich denke, dass die Türkei sich in Richtung Iran entwickeln wird“, sagt er.
Nur wenige Schritte weiter die Prinzenallee entlang steht eine Gruppe zufriedener Männer vor einem Café. „Das ist ein guter Tag für die Türkei“, sagt Kyatci Kazieh, der in Wedding lebt und 1992 nach Deutschland kam. „Unter Erdogan hat sich vieles zum Guten gewendet: die medizinische Versorgung, es gibt jetzt Kindergeld, den Menschen geht es jetzt besser.“ Ruhig ist es auf den Straßen in Wedding um 19.30 Uhr, ruhig ist es auch am Kottbusser Tor in Kreuzberg.
Ali sitzt mit seiner Familie in einem Restaurant und hält den Abend für nicht sonderlich gelungen, nicht etwa, weil das Referendum durchgegangen ist, sondern weil die Mehrheit so knapp war. „Ich habe mit 65 Prozent Ja-Stimmen gerechnet“, sagt der 40-jährige Neuköllner. Er findet es falsch, dass das Referendum in der Türkei so in den internationalen Fokus geraten ist. „Wenn sich gewisse Mächte so aufregen über das Referendum, dann kann es eigentlich nur gut für uns sein, mit Ja zu stimmen“, so seine Logik.
Direkt gegenüber im Veranstaltungsort Aquarium neben dem Südblock hatte Methap Erol von der pro-kurdischen Plattform Nein-Befürworter für heute Abend zusammengerufen. Mehrere Hundert sind gekommen. „Unter diesen Umständen, unter diesen Repressionen 49 Prozent Stimmen zu erzielen, das ist keine Niederlage, sondern ein Sieg“, sagt sie.
Und dann beginnt es doch noch das Hupen draußen. Und trotz einiger Interpretationsspielräume über Niederlage und Sieg ist klar, dass es heute Abend die Ja-Sager sind, die das Referendum per Autokorso auf dem Ku'damm feiern.
Quelle: berliner-zeitung
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