Die Proteste in Venezuela sind allgegenwärtig. Seit einem Monat geht die Opposition gegen zwei Urteile des links-chavistisch dominierten Obersten Gerichts auf die Straße, die dem oppositionell kontrollierten Parlament vorübergehend die Kompetenzen entzogen hatte. Demonstranten werden geschlagen, mindestens 26 Menschen starben bei Ausschreitungen, bei denen sie die Absetzung der Obersten Richter, Neuwahlen, die Freilassung politischer Gefangener und Wirtschaftsreformen forderten. Caracas explodiert in Zeitlupe.
Im Unterschied zu den vorbildlichen Protesten im Jahr 2014 sind die Proteste in ärmeren Landesteilen in eine neue Form des Vandalismus' umgeschlagen. Am 20. April erschütterten schwere Unruhen El Valle, ein sonst friedliches Viertel im Westen von Caracas. Ingesamt starben zwölf Menschen, davon neun an Stromschlägen bei der Plünderung einer Bäckerei. "Das Volk hat Hunger! Haut ab!", schrien Anwohner den Chavista wie Jorge Rodríguez entgegen, als sie nach den Demonstrationen den Ort des Geschehens besuchten. Rodríguez ist Bürgermeister der Gemeinde Libertador in der Provinz Caracas und führendes Mitglied von Präsident Nicolás Maduros sozialistischer Partei PSUV.
Laut der auf Sicherheitsfragen spezialisierten Nichtregierungsorganisation "Observatorio Venezolano de Violencia" ist Hunger einer der Hauptgründe für das neue Kriminalitätsniveau in Venezuela. "Willkür der Herrschenden, Verarmung und Mangel haben im Jahr 2016 eine neue Situation heraufbeschworen: Weit verbreitete Gewaltausbrüche wegen Hungers", erklärt die Studie.
Finanzdebakel und "Wirtschaftskrieg"
Der Niedergang des Chavismus' fällt zeitlich mit dem Finanzdebakel zusammen. "Die Krise des Landes beeinflusst auch stark die Zustimmung für Präsident Maduro, die zwischen 17 und 20 Prozent schwankt", versicherte Luis Vicente León, Chef des Meinungsforschungsinstituts "Datanálisis", im März.
Maduro beschuldigte die Opposition, bereits seit 2013 einen "Wirtschaftskrieg" gemeinsam mit den USA und anderen Staaten gegen Venezuela zu führen, um die Linke zu destabilisieren. Aber die Wechselkurskontrolle der Devisen, der Preisverfall für Öl am Weltmarkt, die Flucht der Unternehmer und Anleger, Enteignungen und weitere Widrigkeiten haben die Basis der venezolanischen Wirtschaft unterhöhlt.
Für die Opposition liegt das Problem auch in der falschen Verwendung nationaler Ressourcen. Vor kurzem wurde bekannt, dass Citgo, Tochterunternehmen des staatlichen Ölunternehmens Petróleos de Venezuela, 500.000 US-Dollar für die Vereidigungsfeier von US-Präsident Donald Trump am 20. Januar gespendet hatte. Dies geht aus Daten der US-Wahlkommission hervor.
Die Familie des Eierverkäufers Pereira ist nur einer der Betroffenen des wirtschaftlichen Niedergangs. Mit seinem Gehalt von 50.000 Bolívar pro Monat, auf dem Schwarzmarkt sind das derzeit etwa 11 US-Dollar, kann er seine zwei Kinder, seine Ehefrau und sich selbst kaum versorgen. "Das Fleisch ist sehr teuer, also ernähren wir uns meistens von Gemüse und Sardinen. Es gibt Tage, an denen wir nur einmal essen. In einem Jahr habe ich 20 Kilo abgenommen", sagt er. Viele venezolanische Familien befinden sich in der gleichen Situation.
Der Mindestlohn im Land beträgt 40.000 Bolívar plus ein geringer Ernährungszuschlag. Der Warenkorb für eine Familie kostet über eine Million Bolívar. Einer Erhebung von drei renommierten venezolanischen Universitäten zufolge reichte im vergangenen Jahr in 93,3 Prozent der Haushalte das Einkommen nicht für die notwendigen täglichen Einkäufe aus.
Unkontrollierbare Inflation
In Las Adjuntas, einem anderen Armenviertel von Caracas, werden viele Produkte in verkleinerten Portionen verkauft. Kaffee, Zucker und Milchpulver werden von Straßenverkäufern angeboten. "Es ist schwierig, diese Produkte so in einem Supermarkt zu finden. Die Leute können es sich so eher leisten", erklärt ein Händler.
Ein Kilo Kaffee kostet in einem Supermarkt schnell mehr als 7000 Bolívar, da ist eine Portion von 100 Gramm wesentlich erschwinglicher. Für Carmen Torres, Mutter von drei Kindern, ist dies ein weiterer Kampf, der auf den Straßen von Venezuela ausgetragen wird. "Alles wird deutlich teurer. Vor zwei Wochen kostete ein Liter fettreduzierte Milch 2500 Bolívar, heute sind es 2900 Bolívar. Weil wir nicht wissen, wie stark der Preis morgen steigen wird, sparen wir kein Geld und geben es sofort aus", erklärt sie.
Venezuela war bis 2015 das Land mit der höchsten Inflation der Welt. Präsident Maduro reagierte mit Gehaltserhöhungen, aber dieses Rezept hat den unkontrollierten Preisanstieg von Waren und Dienstleistungen nicht lindern können. Der Staatschef flüchtete sich schon in sarkastische Schlussfolgerungen: "Wenn ich also die Gehälter senke, wird dann auch die Inflation sinken?", fragte Maduro im Dezember 2016.
Maduros Regierung versucht, die Krise zu verschleiern. Venezuelas Zentralbank BCV hat seit 2015 keine offiziellen Zahlen zur Inflation, dem Bruttoinlandsprodukt, Devisenreserven veröffentlicht. Allerdings ließ das Finanzinstitut seine Statistiken in Richtung Internationaler Währungsfonds durchsickern. Demnach hatte die Inflation des Karibikstaats im Jahr 2016 einen Wert von 274 Prozent erreicht - was weltweit nur der Südsudan übertraf. Doch auch dies ist womöglich nur die halbe Wahrheit: Dem von der Opposition kontrollierten parlamentarischen Finanzausschuss zufolge war die Geldentwertung im vergangenen Jahr doppelt so hoch: 550 Prozent. Die Prognose des Gremiums für 2017 liegt bei 680 Prozent.
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