Die gravierenden Ukraine-Differenzen seien also die unmittelbare Ursache, warum sich die russisch-europäische Agenda drastisch verengt habe: „Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs der angehäuften Probleme. Ihnen liegt die fehlende Vorstellung davon zugrunde, wie sich das Beziehungsmodell gestalten soll, nachdem das am Ende des 20. Jahrhunderts formulierte Konzept des ‚Großen Europas“ nicht umgesetzt worden war.“
Für den Westen, für die EU und vor allem für Deutschland sei Russland mittlerweile keine selbständige Priorität mehr, sondern ein Instrument, um manche internationale und nun auch innenpolitische Probleme zu lösen, hieß es.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion und nach dem Ende der Block-Konfrontation in Europa sei das wiedervereinigte Deutschland mit neuen Aufgaben konfrontiert worden: „Diese gingen auf seine faktische Führungsposition im geeinten Europa zurück, obwohl sich die deutsche Regierung von dieser Rolle distanzierte (…) Die Vereinigten Staaten, dieser unersetzliche Partner und Patron aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erschlossen die Weiten der globalen Führung und interessierten sich weniger für Europa. Russland (obwohl der Rechtsnachfolger und Erbe der Sowjetunion) steckte indes in einer akuten Krise – zunächst politisch und sozial-wirtschaftlich, dann im Zusammenhang mit der Suche nach einer Identität.“
„Der letztere Umstand erwies sich als kritisch wichtig. Denn die Art und Weise, wie Russland seinen Platz in Europa und in der Welt verstand, fiel nicht mit dem zusammen, was die führenden Mächte des Westens, darunter auch Deutschland, den Russen anbieten wollten. Grob gesagt beinhaltete jenes Angebot, dass Moskau eine relativ große, aber zweitrangige und untergeordnete Zelle im neuen europäischen (nicht globalen) Mosaik bekommen soll. Russland beanspruchte dagegen aus geschichtlich-politischen und geografischen Gründen einen selbständigen und ebenbürtigen Platz am Tisch, wo die Regeln formuliert werden“, so Lukjanow.
Russland lasse sich also nicht in das einstige Modell einbetten. Auch das Schema selbst platze aus allen Nähten – wegen der sozial-politischen Veränderungen in den führenden Ländern des Westens. Es gebe keine Ideen zur Neugestaltung Europas und der Welt – nicht zuletzt wegen der qualvollen Suche nach einer neuen Balance in den Gesellschaften der Industrieländer. Daraus resultiere ein Wandel der politischen Landschaft, hieß es weiter.
Es mangle europäischen Ländern an Zeit und Willen, um eine strategisch orientierte außenpolitische Linie auszuarbeiten. Deswegen beschränke man sich lieber auf momentane Aufgaben: „Im Fall Deutschland geht es dabei um eine Aufrechterhaltung der Europäischen Union, also darum, nicht mehr das ‚große‘, sondern nun das ‚kleine‘ Europa zu festigen und stabiler zu machen. Deutschland ist der Hauptnutznießer der Integration und wird auch der Hauptverlierer sein, falls diese Integration scheitert. Neben den materiellen Vorteilen gibt es auch konzeptuelle Schwierigkeiten. Berlin ist so daran gewöhnt, seine nationalen Interessen durch europäische Institutionen zu verwirklichen, dass sich die dortigen Politiker keine anderen Optionen vorstellen können – sie haben Angst davor.“
„Im Ergebnis wird Moskau von Berlin als etwas Unvermeidliches, aber eher Störendes wahrgenommen, dessen Einwirkung eingeschränkt werden soll; als Quelle von Unannehmlichkeiten, mit denen man sich abfinden muss“, so der Kommentar.
„Wie einst im Kalten Krieg müssen Berlin und Moskau ihre Beziehungen sehr ernst und akribisch aufbauen. Was bisher war, funktioniert nicht mehr. Die Trägheit führt immer tiefer in eine Sackgasse. Solange Deutschland seine Beziehungen zu Russland nicht als eine Priorität von selbständiger Bedeutung betrachtet, sind kaum Fortschritte zu erwarten“, schreibt Lukjanow.
Quelle. sputniknews.com
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