Die Ukraine führt einen Überlebenskampf

  09 Mai 2017    Gelesen: 848
Die Ukraine führt einen Überlebenskampf
Kiew gibt sich in den Tagen des Eurovision Song Contests europäisch. Allerdings befindet sich die Ukraine nach wie vor in einer schwierigen Lage. Das Ringen um ihre dauerhafte Existenz ist noch nicht entschieden.
Kiew im Mai 2017: Die ukrainische Hauptstadt ist eine pulsierende Metropole. Fragt man Kiewer Einwohner, wie viele Menschen in ihrer Stadt leben, bekommt man verschiedene Angaben: 5 Millionen, 4,5 Millionen. Ab und zu erntet man auch ein Achselzucken auf die Frage. Offiziell ausgewiesen sind 2,9 Millionen Einwohner - allerdings für das vergangene Jahr.

Nun ist das so eine Sache mit dem Stolz auf seine Stadt beziehungsweise auch mit dem Nationalstolz. Nicht nur der Kiewer oder der Ukrainer, auch Bewohner anderer Nationen neigen dazu, ihr Heimatland oder ihre Heimatstadt größer darzustellen als es/sie in Wirklichkeit ist. Fakt ist allerdings, das sich in den Tagen des Eurovision Song Contests (ESC) natürlich mehr Menschen als sonst in Kiew aufhalten - auch Sicherheitspersonal, das aus vielen Teilen des Landes nach Kiew gebracht worden ist. Egal zu welcher Tageszeit: Metro und Busse sind stark frequentiert, einen Sitzplatz bekommt man selten.

Ob ESC oder nicht: In Kiew ist der Wunsch, ganz zu Europa gehören zu wollen, deutlich spürbar. Neben den zahlreichen gelb-blauen ukrainischen Flaggen wehen auch Europafahnen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Ukraine bereits Teil der Europäischen Union ist. In den Kiewer Supermärkten fühlt man sich fast schon heimisch, bekannte Produkte sind in den Regalen zu finden. Nichts deutet darauf hin, dass vor drei Jahren in der Kiewer Innenstadt Barrikaden existierten, Autoreifen brannten und bei Schießereien viele Menschen - Demonstranten und Polizisten - getötet oder verletzt wurden.

Aufbruchstimmung in Kiew, Sterben im Osten

Kiew versucht, eine Art Aufbruchstimmung zu suggerieren - in einer Zeit, in der der ukrainische Überlebenskampf mitnichten zugunsten der gespaltenen Nation endgültig entschieden ist. Ökonomisch ist die ehemalige Sowjetrepublik trotz zuletzt vermeldeten Wirtschaftswachstums nach wie vor auf westliche Hilfe angewiesen. Finanziell ist die Gefahr eines Staatsbankrotts nicht gebannt. Erst kürzlich haben EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) weitere 1,5 Milliarden Euro überwiesen. Sie sind Teil des 16,5 Milliarden Euro umfassenden vierjährigen Stabilisierungsprogramms.

Noch komplizierter stellt sich die militärische Lage dar. Die Krim ist seit 2014 in russischer Hand. Das militärisch überlegene Russland hält den Konflikt im Osten der Ukraine am Kochen. Trotz Minsker Abkommens sterben weiter Menschen im Donbass. Bislang wurden nach offiziellen Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums durch die Kämpfe mit den prorussischen Separatisten rund 10.000 Menschen, darunter 2650 Soldaten, getötet. Die von der ukrainischen Armee mit Mühe gehaltene Stadt Mariupol am Asowschen Meer hat bis zum Oktober kein warmes Wasser. Es ist nicht abzusehen, dass die Region um Donezk und Luhansk jemals wieder unter die Kontrolle der Regierung in Kiew kommt. Dies ist umso unwahrscheinlicher, wenn man frühere Äußerungen von Wladimir Putin in Erinnerung ruft.

"Was ist das - die Ukraine?"

Es waren deutliche Worte, die der russische Präsident bei einem Treffen zwischen der Nato und Russland am 4. April 2008 in Bukarest gefunden haben soll. "Du verstehst doch, George, dass die Ukraine kein richtiger Staat ist! Was ist das - die Ukraine? Teile ihres Territoriums sind Osteuropa und das größte Territorium ist ein Geschenk von uns", zitierte eine Quelle der Zeitung "Kommersant" den russischen Präsidenten während eines Gesprächs mit seinem US-Kollegen George W. Bush, der den Plan einer Einbindung der Ukraine und Georgiens in die Nato verfolgte.

Der Quelle zufolge hat der Kreml-Chef angedeutet, dass die Aufnahme in den Nordatlantikpakt das Ende der Ukraine bedeuten würde. Putin habe gegenüber Bush mit offenen Karten gespielt und die Annexion der Krim und der östlichen Ukraine ins Spiel gebracht. Das Ende ist bekannt. Die Nato-Staaten ließen in der rumänischen Hauptstadt die heißen Kartoffeln Ukraine und Georgien fallen. Bush und seine europäischen Partner nahmen Putins Drohung ernst.

Im Jahr 2014 sind Putins Ankündigungen wahr geworden. Im Zusammenhang mit den 2013 beginnenden Protesten auf dem Kiewer Maidan wegen der Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU durch den moskaufreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch hatte es - im Gegensatz zur Orangenen Revolution 2004 - Tote und Verletzte gegeben. Russland annektierte einen Teil des von Putin erwähnten "Geschenks" - die Halbinsel Krim. Und im Donbass ist Moskau mit einem Bein drin. Die ukrainischen Streitkräfte sind zur Rückeroberung nicht in der Lage. Putin kämpft verbissen um die Ukraine als Teil des russischen Einflussbereichs. Die Europäer sind machtlos und pochen auf die Einhaltung des Minsker Abkommens. Für US-Präsident Donald Trump besitzt das Thema Ukraine nicht die höchste Priorität.

So durchlebt der junge ukrainische Staat die schwierigste Phase seit seiner Unabhängigkeit 1991. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass er seine flächenmäßige Größe, die er vor 2014 hatte, jemals wieder zurückerlangt.

Quelle: n-tv.de

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