Was Merkel von Skandinavien lernen kann

  23 November 2017    Gelesen: 851
Was Merkel von Skandinavien lernen kann
Eine Minderheitsregierung wäre ein für deutsche Verhältnisse radikaler Ausweg aus dem Patt, das durch das Scheitern von Jamaika entstanden ist. Hoffnungsvoll blickt manch einer nach Skandinavien, wo das Regieren ohne Mehrheit Usus ist.
Es ist allen Beteiligten unwohl beim Gedanken an eine Minderheitsregierung. Kanzlerin Angela Merkel sagte nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche: "Ich habe nicht in meiner Planung eine Minderheitsregierung." Auch die Grünen, nach dem Ausstieg der Liberalen aus den Koalitionsgesprächen der natürliche erste Ansprechpartner für eine solche Option, fremdeln noch sehr mit der Idee. Zu unsicher scheint der Weg, zu unerfahren sind deutsche Politiker mit Minderheitsregierungen.

Tatsächlich hat es so etwas auf Bundesebene bisher lediglich für wenige Wochen gegeben, wenn einzelne Parteien aus Koalitionen ausgestiegen sind. Längere Phasen des Regierens ohne Mehrheit gab es nur in den Bundesländern – in Nordrhein-Westfalen 2010 bis 2012 etwa oder acht Jahre lang in Sachsen-Anhalt. Mit dem "Magdeburger Modell" blieb der SPD-Mann Reinhard Höppner acht Jahre lang Ministerpräsident und ließ anfangs eine rot-grüne, später eine reine SPD-Minderheitsregierung von der PDS tolerieren.

Höppner verlangte das Projekt eine Menge Geduld und Kompromissbereitschaft ab. Die Bilanz ist in den Augen vieler Beteiligter aber eher gemischt. Die Grünen scheiterten nach vier Jahren bei der Wahl und sind auf diese Episode nicht mehr gut zu sprechen. Der PDS dagegen schadete ihre Rolle nicht. Als leuchtendes Beispiel für die Regierungssuche im Winter 2017 taugt das "Magdeburger Modell" also eher nicht.

Rechtspopulisten setzen Regierungen zu

Eine lange und positive Tradition haben Minderheitsregierungen dagegen in Skandinavien. In Dänemark etwa waren 28 von 32 Nachkriegsregierungen ohne feste Mehrheit. Hier, ebenso wie in Schweden und Norwegen, gibt es auch aktuell solche Konstellationen. Durch den Aufstieg des Rechtspopulismus stoßen die Modelle allerdings an ihre Grenzen:

Norwegen: Zwei Wochen vor der Bundestagswahl wurde auch hier gewählt. Es wird wieder eine Minderheitsregierung unter Führung der Konservativen Erna Solberg werden. Getragen wird diese erneut von der rechten Fortschrittspartei, in deren Jugendorganisation der Massenmörder Anders Behring Breivik sozialisiert wurde. In einem detaillierten Regierungsprogramm hatten die beiden Regierungsparteien mit den liberalen Kräften im Parlament 2013 ihre Vorhaben festgeschrieben. So wird es wohl auch dieses Mal wieder laufen. Und die Fortschrittspartei wird Solberg vermutlich erneut zu einer Verschärfung der Flüchtlingspolitik führen.

Dänemark: Hier regiert seit 2016 mit Lars Lokke Rasmussen ein Politiker, dessen Venstre-Partei weniger Sitze hat als die rechtspopulistische Dänische Volkspartei. Um seine Minderheitsregierung auf die Beine zu stellen, war ein ziemlicher Spagat nötig: Er ist auf die Konservativen und die Liberale Allianz angewiesen. Bevor er eine Mehrheit bei den übrigen Parteien organisiert, muss er sich also erst mit zwei Partnern einigen. Die Rechtspopulisten sind zum Mehrheitsbeschaffer Rasmussens geworden und treiben ihn zu einer immer rigideren Ausländerpolitik. Rasmussen selbst gilt in dieser Lage als eher schwacher Regierungschef.

Schweden: Bei der Wahl 2014 verlor die Regierungskoalition, eine Minderheitsregierung angeführt von dem Konservativen Frederik Reinfeldt. Seither regiert eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Stefan Löfven. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten steigerten ihr Ergebnis auf fast 13 Prozent. Ihre Macht demonstrierten sie kurz nach der Wahl, indem sie den Haushaltsentwurf der Regierung blockierten und ankündigten, dem Etatvorschlag des konservativen Blocks zuzustimmen. Löfven hatte die Wahl: Neuwahlen oder sich einem fremden Finanzplan unterwerfen. Nach langem Ringen um einen Kompromiss blieb Löfven schließlich im Amt.

In der Minderheit zu regieren kann also schmerzhaft und mühsam sein. Aber ist mühsam regieren nicht vielleicht besser als nicht zu regieren, um ein aktuelles politisches Zitat einmal etwas abzuwandeln? Anders gefragt: Sind die Erfahrungen aus Skandinavien geeignete Blaupausen für eine Minderheitsregierung in Deutschland? Die Antwort ist nicht eindeutig, zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen dafür.

Ausgleichen statt durchdrücken

Stark zersplitterte Parlamente sind in Skandinavien, anders als im Bundestag, historisch gesehen üblich. In Dänemark gilt eine Zweiprozenthürde, um Minderheiten eine Chance zu geben. Im nur 179 Abgeordnete umfassenden Kopenhagener Folketing sitzen aktuell neun Fraktionen. Die niedrigen Sperrklauseln des norwegischen Stortinget und des schwedischen Riksdags übersprangen bei den vergangenen Wahlen ebenfalls je neun Parteien. Das macht das Bilden von Regierungen mit einer Mehrheit von Natur aus schwieriger. Anders als in Deutschland, wo die Hürde wegen der Erfahrungen aus der Weimarer Republik recht hoch liegt, sind Minderheitsregierungen von den jeweiligen skandinavischen Verfassungsvätern ausdrücklich erwünscht.

Anders als in Deutschland folgen die skandinavischen Demokratien dem sogenannten "negativen Parlamentarismus". Kurz gesagt bedeutet das: Wer regieren will, braucht keine Mehrheit. Eine Mehrheit braucht aber derjenige, der eine Regierung abwählen will. Enthaltungen bei Abstimmungen werden nicht gegen, sondern für einen Antragssteller gewertet. Kommt es im Bundestag zu einem Patt der Stimmen, ist eine Initiative abgelehnt. In Schweden etwa kommt bei Gleichstand der Würfel zum Einsatz – ein Wagnis, dass eine Regierung durch die Suche nach einem Kompromiss eher versucht zu umgehen.

Das fördert eine grundlegend unterschiedliche politische Kultur. Wer in der deutschen Politik Kompromisse sucht, gilt eher als schwach. Wer zu viele Zugeständnisse macht, wird als Verlierer angesehen. In der skandinavischen Politik steht die Lösung eines Problems im Vordergrund, nicht so sehr die Durchsetzungskraft eines Politikers oder einer Partei. Wer Regierungschef sein will, muss den Ausgleich zwischen sehr vielen unterschiedlichen Interessen finden. Macht bedeutet Moderation – das könnte Kanzlerin Angela Merkel eigentlich entgegenkommen.

Quelle: n-tv.de

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