Um 12 Uhr weiht Rabbiner Yehuda Teichtal den großen Leuchter auf dem Pariser Platz ein, am Abend soll das erste der acht Lichter leuchten. In diesem Jahr habe die Entzündung des Chanukka-Leuchters eine besondere Bedeutung, sagt Teichtal n-tv.de. Am Freitag und am Sonntag waren hier auf dem Pariser Platz israelische Fahnen verbrannt worden, hier sei "Kindermörder Israel" und "Tod den Juden" gerufen worden, sagt der Rabbiner. Das sei sehr beunruhigend. "Deswegen hat es eine ganz besondere Bedeutung, heute die Chanukka-Kerzen am Brandenburger Tor zu entzünden: als eine Botschaft von Licht über Dunkelheit."
Eigentlich ist Teichtal ein fröhlicher Typ. "Berlin ist ein Ort für Licht!", ruft er bei der Einweihung und lacht. Mit einer Hebebühne fahren er und ein weiterer Rabbiner hoch zu den Armen des Leuchters und rezitieren Psalmen dabei. Als der Korb, in dem auch ein Techniker steht, wieder runterfährt, fangen sie an zu tanzen. Der Korb wackelt bedenklich. "Wir tanzen nur ein bisschen", sagt Teichtal zum Techniker. Der guckt, als wolle er sagen: schon ok.
Wieder unten gibt Teichtal Interviews. Als ihm eine Gruppe israelischer Schüler auffällt, eilt er auf sie zu, fängt wieder an zu singen und zu tanzen. Die Jungs sind in einem Alter, in dem man so etwas eher peinlich findet, aber dann lassen sie sich doch darauf ein. "Am Yisrael Chai", singen sie und wirken wie Fußballfans, die ihre Mannschaft feiern, "das Volk Israel lebt".
"Gott ist groß" am Hauptbahnhof
Ein paar Stunden später am Hauptbahnhof in Berlin bleibt es bei der palästinensischen Demonstration, die hierher ausweichen musste, mehr oder weniger ruhig. Zunächst skandieren junge Frauen Sprüche wie "Stoppt den Wahn, stoppt den Krieg, Intifada bis zum Sieg" oder "Deutschland finanziert, Israel bombardiert" oder "Hoch die internationale Solidarität", aber auch allerlei arabische Parolen. Auf Twitter teilt die Polizei mit, dass ein Dolmetscher für Arabisch sich die Gesänge anhöre. Dann übernehmen junge Männer das Megafon. Sie sind schon heiser, als sie anfangen, und auch sie erinnern an Fußballfans. Wenn sie "Allahu akbar", Gott ist groß, rufen, klingt das nicht nach einem melodischen Muezzin-Ruf, sondern durchaus aggressiv.
Hamas-Fahnen sind dieses Mal nicht zu sehen - vielleicht liegt es daran, dass diese Kundgebung von einem anderen Verein angemeldet wurde als die anderen, vielleicht daran, dass die Polizisten die mitgebrachten Fahnen kontrollieren. Ein paar Festnahmen gibt es dann doch noch - eine wegen Vermummung, zwei nach dem mutmaßlichen Zeigen eines Symbols der Terrorgruppe IS. Einmal kurz brüllen zwei oder drei junge Männer "Israel Kindermörder". Der Veranstalter distanziert sich in einer Lautsprecherdurchsage ausdrücklich von Antisemitismus und bekennt sich ausführlich zu rechtsstaatlichen Grundsätzen wie dem Gewaltmonopol des Staates. Dann spricht er über Jerusalem. Die Stadt gehöre nicht einer Religion allein. "Jerusalem gehört den Muslimen, Jerusalem gehört den Christen." An dieser Stelle ist der Satz zu Ende. Juden erwähnt er nicht.
Unter den Teilnehmern der Demonstration findet man Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung und solche, die den Staat Israel durch Palästina ersetzen wollen. "Wir haben keine Probleme mit Juden, wir sind alle Menschen", sagt ein Mann, der seit 27 Jahren in Deutschland lebt. Dass auf den Demonstrationen am Freitag und Sonntag "Tod allen Juden" skandiert wurde, findet er nicht gut. "Aber das sind junge Leute, die meinen das nicht wörtlich. Die sind eben wütend." Auf die Frage, ob es den Staat Israel seiner Meinung auch künftig geben sollte, antwortet er: "Natürlich."
Drei junge Männer sehen das anders. Sie verehren Jassir Arafat, halten die palästinensische Autonomieregierung für zu lasch und wollen in ihre Heimat zurück. In ihre Heimat? Einer von ihnen ist gebürtiger Berliner, die anderen beiden sind in einem Flüchtlingslager im Libanon zur Welt gekommen. Selbst ihre Eltern kennen Palästina nur aus Erzählungen. Seit zwei Jahren sind sie in Deutschland. Auch sie haben nichts gegen Juden, überhaupt nicht. Sagen sie jedenfalls. "Die Juden kontrollieren alles", sagt einer von ihnen dann.
"Wer Angst zeigt, wird leichter zum Opfer gemacht"
Kurz darauf, gut einen Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, wiederholt Rabbi Teichtal bei der Entzündung des Leuchters, Chanukka sei eine Botschaft von Licht über Dunkelheit. Zu den Gästen gehört der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und Bundesjustizminister Heiko Maas halten kurze Reden. Müller sagt, man müsse "jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegentreten" und er erwähnt die Diebstähle von Stolpersteinen in Berlin und auch die Demonstrationen vom Wochenende. Das Verbrennen israelischer Flaggen sei eine "unerträgliche Provokation", so Müller, "die wir nicht hinnehmen werden". Es gebe dafür "keinerlei Toleranz". Maas sagt, Antisemitismus sei eine Schande für die Gesellschaft, die ihn zulasse. "Wer die israelische Fahne verbrennt, der verbrennt auch die Werte unseres Landes." Wer "Tod den Juden" rufe, der sei kein Demonstrant und gehöre "nicht auf die Straße, sondern vor ein Gericht".
Anders als die Reden vermuten lassen könnten, ist die Stimmung auf dem Pariser Platz durchaus dem Anlass entsprechend fröhlich - nur der kalte Regen stört. Eine Frau schwenkt eine israelische Fahne. Gerade wegen Flaggen-Verbrennungen habe sie die mitgebracht, sagt sie. Ein junger Mann mit Kippa antwortet auf die Frage, ob er diese Kopfbedeckung auch andernorts in Berlin trage, mit "Nein". Mehr will er dazu nicht sagen. Ein Student erzählt, er trage die Kippa gelegentlich in der Uni. "Da gibt es keine Probleme."
Die Chanukka-Feier am Brandenburger Tor findet unter Polizeischutz statt, wer zur Bühne will, muss zwei Mal seinen Rucksack kontrollieren lassen. Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen seien leider normal, sagt der Journalist Oliver Bradley, der seit 26 Jahren in Berlin lebt. Das liege am "traditionellen Rechtsradikalismus, der sich manchmal ein bisschen versteckt, der aber immer da ist". Verstärkt werde die Gefahr dadurch, "dass die Kurve des islamisch geprägten Antisemitismus rasant steigt - wahrscheinlich wird er die Gefahr des rechtsradikalen Antisemitismus irgendwann sogar übersteigen".
Bradley ist schon zwei Mal als "Scheiß Jude" beschimpft worden. "Das waren Leute, die südländisch aussahen, vielleicht arabischer Abstammung. Sicher würden sie auch nicht wollen, dass jemand sie beschimpft, weil sie anders aussehen. Habe ich deshalb mehr Angst? Nein, hab ich nicht. Würde ich mein Jüdisch-Sein an die große Glocke hängen? Nein, das würde ich nicht machen. Man muss aufpassen, aber Angst sollte man nicht haben." Wer Angst zeige, werde leichter zum Opfer gemacht.
Unterdessen haben Rabbi Teichtal und Bürgermeister Müller den Leuchter entzündet. Vor der Bühne wird schon wieder getanzt.
Quelle: n-tv.de
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