Furcht vor einem Kalten Krieg 2.0

  18 Dezember 2017    Gelesen: 910
Furcht vor einem Kalten Krieg 2.0
Vor 30 Jahren einigten sich die USA und die Sowjetunion auf ein weitreichendes Abrüstungsabkommen. Heute sind Bestand und Zukunft des Vertrags ungewiss - und damit die gesamte nukleare Abrüstung. Christian Thiels über Vorwürfe, Misstrauen und die Furcht vor einem Kalten Krieg 2.0.

Einen "entwaffnend einfachen Vorschlag" nannte US-Präsident Ronald Reagan das, was 1987 zwischen Russland und den USA vereinbart wurde: Beide Supermächte verzichten einfach auf alle landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen. Für manche Politiker und Militärs in Washington und Moskau war diese Idee viel zu visionär und unrealistisch. Und doch gelang es. Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow sprach von der "universellen Bedeutung für die Menschheit, sowohl vom Standpunkt der Weltpolitik als auch des Humanismus", die das INF-Abkommen habe.

Abrüstungsabkommen
Der INF (Intermediate-Range Nuclear Forces)-Vertrag wurde am 8. Dezember 1987 von US-Präsident Ronald Reagan und dem sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow unterzeichnet. Er legte fest, dass die Vertragsparteien sämtliche landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern innerhalb von drei Jahren nach Vertragsunterzeichnung vernichten. Erstmals wird mit dem INF-Vertrag eine ganze Gattung von Atomwaffen verschrottet.

Heute, 30 Jahre später, sind Bestand und Zukunft des historischen Abkommens ungewiss. USA und NATO bezichtigen Moskau, neue Mittelstreckenwaffen zu entwickeln und auch zu stationieren. Waffen also, die Geist und Wortlaut des INF-Vertrages widersprechen. Am vergangenen Freitag verbreitete die Allianz eine gemeinsame Erklärung, in der man Russland drängt, nachvollziehbar und transparent auf die Vorwürfe einzugehen und sich mit den USA in den Dialog zu begeben.

Gegenseitige Schuldzuweisungen
Moskau dagegen bestreitet die Vorwürfe und erklärt seinerseits, die Amerikaner würden mit dem Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Rumänien den Abrüstungsvertrag unterlaufen, weil das System auch zum Verschießen von Mittelstreckenraketen geeignet sei, die der INF-Vertrag verbietet. "Die Vorwürfe und Gegenvorwürfe sind in den vergangenen Jahren eigentlich immer gleich geblieben, aber es hat nie eine echte Klärung gegeben", sagt Götz Neuneck vom Institut für Friedensforschung der Uni Hamburg im Gespräch mit tagesschau.de.

Neuneck sitzt auch in der sogenannten "Deep-Cuts"-Kommission, einer Expertengruppe mit hochrangigen deutschen, russischen und amerikanischen Fachleuten, die sich mit Fragen des Abbaus der nuklearen Arsenale zwischen den USA und Russland auseinandersetzt.

Die Kommission plädiert schon seit geraumer Zeit für mehr Transparenz, um wieder Vertrauen aufzubauen. Der INF-Vertrag sieht zwar Überprüfungen der vereinbarten Schritte vor, doch vom jüngsten Treffen des zuständigen Gemiums vor wenigen Tagen gibt es nicht viel mehr als eine dürre und ziemlich nichtssagende Presseerklärung. Das mag auch daran liegen, dass es mit dem Vertrauen innerhalb dieser "Special Verification Commission" nicht so weit her sein könnte.

Gabriel warnte vor neuem Kalten Krieg
Denn neben Russland und den USA sitzt hier als Vertragspartei unter anderem auch die Ukraine mit am Tisch. Und das Verhältnis zwischen Moskau und Kiew sei aktuell eher schwierig, sagt Neuneck: "Das ist kein gutes Klima, um das zu lösen". Dabei stehe viel auf dem Spiel. "Wenn wir da nicht aufpassen, dann gibt es ein neues Wettrüsten in Europa und das ist eine sehr reale Gefahr". Die hat auch Außenminister Sigmar Gabriel auf den Plan gerufen. Schon im August sagte er, es drohe ein "Kalter Krieg 2.0", und mahnte: "Wir wiederholen gerade die schlimmsten Fehler aus der Ost-West-Konfrontation." Die wichtigsten Verträge und Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle würden zerstört und Europa werde in dieser Entwicklung Leidtragender sein.

Solche Warnungen erscheinen kaum übertrieben, denn die Republikaner in US-Kongress und -Senat haben das Pentagon vor wenigen Monaten aufgefordert, wieder einen potenziell nuklearen Marschflugkörper entwickeln zu lassen. "Man will natürlich jetzt den Druck auf Russland erhöhen, indem man das ankündigt", erklärt Götz Neuneck.

Erst kürzlich hatte Russlands Präsident Wladimir Putin gesagt, dass es den Anschein habe, "dass die Vereinigen Staaten mit einer Propaganda-Kampagne den Boden dafür bereiten, sich womöglich selbst aus dem INF-Abkommen zurückzuziehen". Doch Russland halte an der Abrüstungspolitik fest und werde sich nicht auf ein neues Wettrüsten einlassen.

Moskau fürchtet "Enthauptungsschlag"
Ähnlich äußern sich allerdings auch die Amerikaner. Die vermeintliche Stationierung neuer russischer Marschflugkörper könnte also auch einen politisch-strategischen Hintergrund haben. Kaum etwas fürchtet man in Moskau so wie einen "Enthauptungsschlag", also einen massiven Überraschungsangriff, der die politische und militärische Führung und die wesentlichen Kommunikations- und Kommandostrukturen vernichtet. Deshalb, vermutet Neuneck, könnte das Verhalten des Kremls auch der Versuch sein, Zugeständnisse zu erzwingen - etwa bei der als Bedrohung empfundenen Raketenabwehr von USA und NATO.

Ein echtes Interesse an einer weiteren Eskalation kann indes keine der Seiten haben. Denn ein neues nukleares Wettrüsten mit Marschflugkörpern und Mittelstreckenraketen wäre nicht nur teuer und gefährlich. Wenn der INF-Vertrag irreversible Schäden abbekommt oder gar gekündigt würde, dann sähe es auch für eine Neuauflage des START-Vertrages über die Begrenzung und Reduzierung nuklearer Langstreckenraketen finster aus.

Auswirkungen auf ähnliche Verträge
"Womöglich gibt es dann gar keinen Rüstungskontrollvertrag mehr bei der nuklearen Abrüstung und das wäre wirklich eine fatale Entwicklung", sagt Friedensforscher Neuneck. Denn ein Scheitern solcher amerikanisch-russischer Abkommen hätte auch unmittelbare Auswirkungen auf die Durchsetzbarkeit ähnlicher Verträge mit anderen Atommächten oder Ländern, die es werden wollen. Man denke etwa an Nordkorea, Pakistan, Indien oder den Iran.

Kann man also die jüngsten Äußerungen von US-Außenminister Rex Tillerson, Amerika seien gute Arbeitsbeziehungen mit Russland äußerst wichtig, als Zeichen der Entspannung werten? Götz Neuneck warnt vor zu viel Enthusiasmus und verweist auf die Eigendynamik zwischen den beiden Weltmächten: "Man sollte auch die strategische Bösartigkeit verschiedenster Kreise in Russland und den USA nicht unterschätzen."

tagesschau.de

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