Kinder, die im Mittelmeer ertrinken. Familien, die mit nichts als ein paar Tüten in der Hand Autobahnen und Schienen entlang laufen. Die Bilder der vergangenen Wochen von Flüchtlingen aus Syrien schüren im Westen Wut – und erhöhen den Druck, effektiver militärisch gegen die Terroristen des Islamischen Staats (IS) vorzugehen. Doch einfach noch mehr Drohnen und Flugzeuge zu schicken, wird nichts bringen, glauben Londoner Militärexperten. «Es ist keine Frage der Kapazität, sondern eine der Strategie», sagt der Nahost-Forscher Emile Hokayem vom Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS). Die jetzige Strategie sei «höchst fehlerhaft».
Der Westen pflege eine falsche Sicht auf die IS-Terrormiliz, erklärt Nigel Inkster, der grenzübergreifende Risiken analysiert. «Unser Problem ist, dass wir uns auf die Ideologie konzentrieren, und den IS nicht als rationalen politischen Akteur sehen. Aber das ist, was er ist.»
Dass dieser Akteur bald wieder von den politischen und geografischen Landkarten verschwindet, bezweifeln die Londoner. Man werde auf absehbare Zeit eher mit dem Problem umgehen müssen, als es zu beseitigen. Sowohl der Irak als auch Syrien seien de facto längst gespalten, inzwischen konzentrierten sich die verschiedenen Parteien eher darauf, ihre Macht in Einflussgebieten zu festigen.
Auch der IS habe bereits begonnen, staatsähnliche Strukturen aufzubauen. Mit dieser Einschätzung sind die IISS-Experten nicht alleine, im Gegenteil. Harvard-Professor Stephen M. Walt etwa hält es auch für nicht unwahrscheinlich, dass der IS seine Macht bewahrt und sich weiterhin erfolgreich gegen Angriffe wehrt. Dann, schrieb Walt im Sommer im Magazin «Foreign Policy», hätte der IS gewonnen.
10 000 IS-Dschihadisten starben seit Mitte 2014, schreiben die IISS-Experten in ihrem am Dienstag veröffentlichten Bericht, der Machtverschiebungen der vergangenen zwölf Monate benennt und analysiert. Doch neue Rekruten rückten in großer Zahl nach – in großer Zahl vor allem aus Tunesien und Saudi Arabien, aber auch aus Europa, besonders aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Etwa die Hälfte der in Europa geworbenen Kämpfer werde online rekrutiert. Über geschätzt 25 000 Kämpfer verfügt die Gruppe derzeit.
Die kämpfen an vielen Fronten, so die dpa: gegen die irakische Armee, schiitische Milizen, sunnitische Stämme in der Provinz Al-Anbar, Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad und Regimegener in Syrien. Aus der Luft bombardiert die internationale Allianz unter US-Führung. Eine besonders wichtige Rolle spielen die Kurden: «Die am besten organisierten, entschlossensten und effektivsten Kräfte vor Ort waren die kurdischen Kämpfer im Irak und in Syrien, denen bisweilen türkische Kurden halfen», heißt es im IISS-Bericht.
Ohne die Kurden wird es nicht gehen, betont Nahostexperte Hokayem am Dienstag erneut. Daher müsse der Westen «politisch tun, was es braucht, um die Kurden auf seiner Seite zu halten.» Zusätzlich sei die Hilfe sunnitischer Muslime nötig, um zu verhindern, dass die – ebenfalls sunnitischen – IS-Terroristen sich weiter ausbreiteten. «Und wenn man sunnitische Araber an Bord holen will, braucht man eine politische und militärische Lösung, um das Schicksal Assads in Angriff zu nehmen», sagte Hokayem. Vor dieser «harten Wahrheit» drücke sich der Westen.
Im Umkehrschluss heißt das: Der Aufruf des russischen Präsidenten Wladimir Putin, eine internationale Anti-IS-Koalition zu bilden und daran auch Assad zu beteiligen, ist für die Londoner tabu. Assad sei nach wie vor eine größere Gefahr für die Zivilbevölkerung in Syrien als der IS, das werde gern verdrängt, sagt Hokayem. Und Putin habe eine «sehr weite Definition» der Islamisten, die er bekämpfen wolle. Tatsächlich würden sich die gemäßigten syrischen Rebellen eher auf die Seite des IS schlagen, als mit Assad zu kämpfen. «Der Handlungsspielraum ist begrenzt», sagt der Nahostforscher. «Aber der russischen Führung zu folgen, ist sicher keine Lösung.»
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