Bundestag untersucht tödliche Unfähigkeit

  01 März 2018    Gelesen: 1435
Bundestag untersucht tödliche Unfähigkeit

Die Geschichte des Attentäters Amri ist eine Geschichte von historischem Behördenversagen. Nun beginnt ein U-Ausschuss mit der Aufarbeitung. Der Antrag auf seine Einrichtung wird von allen Fraktionen getragen - mit einer Ausnahme.

 

Als der islamistische Terrorist Anis Amri am 19. Dezember 2016 einen Sattelschlepper absichtlich auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatzt lenkt, 12 Menschen ermordet und 56 verletzt, ist er bereits behördenbekannt. Er ist mehrfach vorbestraft, wird von den Behörden beobachtet, als "foreign fighter", also Terrorist eingestuft. Ein V-Mann des LKA in Nordrhein-Westfalen hatte schon ein Jahr zuvor den Hinweis gegeben, Amri plane einen Anschlag. Er kommt auf die Liste offizieller Gefährder, soll abgeschoben werden und schließlich kann er dennoch untertauchen und einen der schwersten Anschläge der deutschen Geschichte verüben.

Aufarbeiten soll das Blutbad, das am Ende einer ganzen Pannenserie der inneren Sicherheit steht, nun ein Untersuchungsausschuss, der morgen seine Arbeit aufnimmt. Zum Auftakt soll Kontakt zu den Angehörigen und Opfern des Anschlags aufgenommen werden. "Es verändert grundsätzlich das Mindsetting, wenn man im Vorhinein mit den Opfern spricht", sagt CDU-Politiker Armin Schuster, der dem Ausschuss vorsitzen wird. "Niemand, der ein Herz hat, kann sich dieser Reaktion verschließen."

"Anschlag wäre vermeidbar gewesen"


Schuster sieht erhebliche Versäumnisse bei den Behörden: "Der Fall Anis Amri war ein Prozess, der verdammt lange schief lief", so Schuster. Und der Umgang mit dem Anschlag sei "merkwürdig anders", als etwa im Fall der NSU-Attentate, "obwohl mehr Menschen ums Leben gekommen sind". "Die Bedeutung von NSU war sehr hoch, vor allem im parlamentarischen Raum. Gefühlt ist der Fall Amri eine Schwelle tiefer", bemängelt er. Mit zwei Ausschüssen sei damals die Geschichte der rechtsextremen Terror-Gruppe aufgearbeitet worden. "Diese Ausschüsse hatten viele gesetzgeberische Konsequenzen", merkt Schuster an. "Und das war, was die Opfer damals auch erwarten durften." Gleiches müsse für die Opfer vom Breitscheidplatz gelten.

"Der Anschlag wäre vermeidbar gewesen", sagt der designierte Obmann der Unions-Fraktion, Stephan Mayer. Der Ausschuss solle Schwachstellen in der deutschen Sicherheitsarchitektur aufdecken. "Was muss getan werden, um Ausreisepflichtige außer Landes zu bringen, insbesondere Gefährder?" Der Bund habe bereits zahlreiche Konsequenzen aus dem Fall gezogen. Es wäre aber fahrlässig, es dabei zu belassen, betont er. In Nordrhein-Westfalen und Berlin wurden bereits parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt, um Versäumnissen der jeweiligen Länderbehörden nachzugehen. Der Bundestagsausschuss will ihre Erkenntnisse einbeziehen, den Fall Amri aber umfassender analysieren.

Aufgabe des Ausschusses müsse es sein, systematische Fehler aufzudecken, sagt Mayer. Warum die Behörden in NRW Amri etwa einen derartigen Vertrauensvorschuss gewährt hätten, warum der Generalbundesanwalt keine Kompetenz für Sammelverfahren habe und ob das Trennungsverbot zwischen Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten noch zeitgemäß sei. "Sobald ein Staatsanwalt sagt, ich führe, gehen die Nachrichtendienste in die Defensive. Das sollten wir überdenken", sagt Mayer.

Auf die Einrichtung des Ausschusses haben sich Union, SPD, Grüne, Linke und FDP verständigt. Die AfD hatte sich grundsätzlich zwar auch dafür ausgesprochen, ist am jetzigen Antrag jedoch nicht beteiligt. "Die AfD hat nicht verstanden, dass der Untersuchungsausschuss eine politische Bewertung liefert und nicht von vornherein mit einer politischen Bewertung die Arbeit aufnimmt", sagt Schuster. Die AfD habe zunächst keine Beiträge geliefert und dann versucht, dem Ausschuss eine größere Dimension zu geben. Die designierte Grünen-Obfrau Irene Mihalic beklagt, die Partei habe bei dem Ausschuss "gänzlich andere Interessen als alle anderen Fraktionen". "Die wollte den Untersuchungsausschuss als Fanal für eine Verurteilung der Flüchtlingspolitik verwenden und die Gefahr besteht weiterhin", kritisiert Mayer. "Ich möchte aber nicht zulassen, dass sie den Ausschuss missbrauchen für ihr Thema. Hier geht es um etwas völlig anderes."

Der Fall Anis Amri - Chronologie eines Behördenversagens:

2011: Laut tunesischen Sicherheitsbehörden wird Anis Amri in Abwesenheit wegen Körperverletzung und Raub von einem Gericht in Kairouan zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits in Europa.

April 2011: Amris illegale Einreise in die EU wird von den Behörden erfasst.

Oktober 2011: Gemeinsam mit vier weiteren tunesischen Flüchtlingen verprügelt Amri einen Erzieher des Heimes auf Sizilien, in dem er untergebracht ist, und legt einen Brand. Er wird zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Im Gefängnis soll er sich radikalisiert haben.

Juli 2015: In Freiburg greift die Polizei Amri auf. Er lässt sich unter dem Namen Anis Amir registrieren, danach in Dortmund als Mohamed Hassa. Am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales schlägt Amri einen Wachmann. Der Polizeieinsatz bleibt aufgrund der falschen Namen ohne Konsequenzen.

Dezember 2015: Amri plane offenbar ein Attentat, warnt ein V-Mann des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen. Ein gewisser "Anis" wolle Einbrüche verüben, um mit der Beute an Waffen zu kommen.

Februar 2016: Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ in Berlin wird vier Mal über Anis Amri gesprochen. Beamte greifen ihn auf und beschlagnahmen sein Handy, finden Kontakte zu IS-Leuten.

März 2016: Die Behörden erkennen die Gefahr: In Berlin gilt Amri offiziell als "Gefährder". Nicht aber in anderen Bundesländern. Amri reist nach Oberhausen und Dortmund und trifft sich vermutlich in Hildesheim mit dem salafistischen Prediger Abu Walaa.

April 2016: In Berlin wird Amri observiert, er ist einer von mehr als 100 Gefährdern. In NRW wird bemerkt, dass er sich unter falschem Namen Sozialleistungen erschlichen hat. Amri beantragt weiterhin unter verschiedenen Namen Asyl in unterschiedlichen Städten, unter anderem in Kleve und Emmerich.

Mai 2016: Auch das LKA in NRW stuft ihn als Gefährder ein. Einer seiner Asylanträge - unter dem Namen Ahmed Almasri - wird abgelehnt.

Juni 2016: Amri verbringt Zeit als Drogendealer im Görlitzer Park in Berlin. Ein zweiter Asylantrag unter falschem Namen wird in Kleve abgelehnt. Erneut wird im GTAZ über ihn gesprochen. Doch es bleibt dabei: keine Festnahme.

Juli 2016: Wegen eines Streits um Drogen stürmt Amri mit einem libyschen Komplizen eine Bar in Berlin-Neukölln. Direkt danach fährt er mit dem Fernbus nach Zürich. Er wird an der Grenze mit Drogen und gefälschten Papieren erwischt und bleibt für einige Tage in Abschiebehaft.

August 2016: Amri wird entlassen. Es fehlen Papiere aus Tunesien, ohne die er nicht abgeschoben werden kann. In Kleve spricht ihm die Ausländerbehörde eine Duldung aus. In Berlin besucht er die radikale Fussilet-Moschee.

September 2016: Der marokkanische Geheimdienst und tunesische Behörden warnen angeblich eindringlich vor Amri. Dennoch wird er nicht weiter beobachtet. "Die Überwachungsmaßnahmen erbrachten keine Hinweise, um den ursprünglichen Vorwurf zu verifizieren", urteilt die Berliner Justiz.

Oktober 2016: Letztmalig wird im GTAZ über Amri gesprochen. "Kein konkreter Gefährdungssachverhalt", heißt es dort. Dennoch wird er ab dem 13. Oktober in den Datenbanken als "foreign fighter", also als Terrorist, geführt.

Danach verliert sich seine Spur. Amri taucht unter. Am 19. Dezember rast er mit einem LKW über den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz.

Quelle: n-tv.de


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