Montagmittag, Bundespressekonferenz in Berlin. Warum denn so griesgrämig? Das fragt ein Journalist die Kanzlerin, die zwischen Olaf Scholz und Horst Seehofer sitzt. Angela Merkel schaut ernst, überlegt kurz. Dann löst sich ihr Gesicht zu einem Lächeln: "Wir können auch gerne freundlich gucken, es fällt mir nicht schwer." Der Kanzlerin ist die Erleichterung anzumerken, aber von Euphorie ist wenig zu spüren an diesem Tag, an dem sie mit Seehofer und Scholz den Koalitionsvertrag unterzeichnet. In dieser Woche wird der Bundestag Merkel zum vierten Mal zur Kanzlerin wählen. Hinter den Protagonisten der Großen Koalition liegen harte, aufreibende Monate. Voller Ungewissheit und Rückschläge. Das gilt nicht nur für die bisweilen etwas bockige SPD, sondern auch für die Kanzlerin selbst. Das Zustandekommen ihrer vierten Amtszeit war ein echter Kraftakt, der zwischenzeitlich sogar vor dem Scheitern stand. Merkel musste fürchten, dass sie bleiben kann, was sie seit zwölf Jahren ist.
Der 24. September 2017 ist der Tag, an dem die Hängepartie beginnt. Sämtliche Umfrageinstitute sehen die Union kurz vor der Wahl zwischen 35 und 37 Prozent. Ein solches Wahlergebnis wäre nicht so gut wie vier Jahre vorher, aber absolut okay. Aber zumindest bei den Zahlen für CDU und CSU liegen die Demoskopen mächtig daneben. 32,9 Prozent – mit diesem Ergebnis schlittern die Schwesternparteien am Wahlsonntag ins Ziel. Das lange entschiedene Duell zwischen Merkel und SPD-Kandidat Martin Schulz, die Fokussierung auf den Kampf um den dritten Platz: Erklärungen gibt es zuhauf. Aber das alles kann eines nicht verhehlen: Das war so nicht geplant.
Auf mögliche Fehler angesprochen, reagiert die Kanzlerin am 25. September kühl: "Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten." Nicht wenige fühlen sich an Helmut Kohl erinnert. Der frühere Kanzler tat sich in der Spätphase schwer mit Kritik, den richtigen Zeitpunkt für sein Abtreten verpasste er. Merkel, das war zumindest bis vor Kurzem die Annahme vieler, würde es anders machen. Würde sie? Ihr Umgang mit der Wahlniederlage klingt zunächst jedenfalls nicht so. Vielleicht ahnt Merkel schon, dass schwierige Monate vor ihr liegen. Dass die Regierungsbildung womöglich komplizierter wird als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die SPD hat eine Große Koalition schon am Wahlabend ausgeschlossen, alle anderen Zwei- oder Drei-Parteien-Varianten haben keine Mehrheit.
"Ich habe das getan, was ich konnte"
Jamaika. Darauf, so sieht es jedenfalls Anfang Oktober aus, würde es dann wohl zwangsläufig hinauslaufen. Die vier Parteien beginnen mit den Sondierungen. Fast täglich gibt es neue Bilder, die Politiker von CDU, CSU, FDP und Grünen gemeinsam auf den Balkonen der Parlamentarischen Gesellschaft zeigen, wo die Gespräche stattfinden. Es wird gefeixt und in Richtung der Fotografen gewunken. Aber die Verhandlungen laufen nicht so fröhlich, sie sind zäh. Auch die alten Konflikte zwischen FDP und Grünen sowie CSU und Grünen behindern die Einigkeit. In der Nacht vom 19. auf den 20. November erklärt FDP-Chef Christian Lindner die Gespräche für gescheitert.
Die Jamaika-Träume sind kaum geplatzt, da bricht die Schuldfrage aus. Vor allem die Liberalen sehen sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Aber auch Merkel gerät ins Kreuzfeuer. Als Regierungschefin hätte sie die Partner zusammenbringen, einen visionären Überbau bieten müssen, heißt es vor allem von FDP und Grünen. Die Wahl ist inzwischen zwei Monate her, aber noch immer ist keine Regierung in Sicht. Ist die Kanzlerin zu schwach, fehlt es ihr an der nötigen Autorität und muss vielleicht sogar jemand anders ran? Diese Diskussion schieben viele Medien nach dem Jamaika-Aus an. Merkel tritt dem deutlich entgegen. Falls es zu Neuwahlen kommen sollte, werde sie ihre Partei erneut in den Wahlkampf führen, erklärt sie. Rücktritt? "Nein, das stand nicht im Raum", sagt sie. Fehler? "Ich habe das getan, was ich konnte, und wie gesagt, wir waren auch wirklich vorangekommen." Für Merkel sind es schwierige Tage.
Große Koalition, Neuwahlen, Minderheitsregierung - alles ist nun möglich. Es hängt jetzt alles von der SPD ab, die hilft unfreiwillig. Merkel und auch Lindner verschwinden Ende November schnell aus dem Scheinwerferlicht. Der nächste Akt der Regierungsbildung ist fast ausschließlich den Sozialdemokraten vorbehalten. Die sträuben sich gegen ein Bündnis mit der Union, öffnen sich nach einem Appell des Bundespräsidenten aber schnell. Vor Weihnachten gibt es die ersten Gespräche. Zumindest die Führung der SPD ist, sollten die Bedingungen stimmen, bereit für ein Bündnis. Aber in der Partei gibt es erhebliche Vorbehalte und Schulz will die Mitglieder über ein Bündnis abstimmen lassen. Vor April, so heißt es zum Jahreswechsel, steht die neue Regierung nicht - vorausgesetzt natürlich, die SPD-Basis macht mit. Merkel hat es nicht selbst in der Hand. Geduld ist gefragt. Der Kanzlerin bleibt nicht viel mehr als die Rolle der Zuschauerin.
Zu viele Opfer für den Machterhalt?
Am 21. Januar blicken Merkel und die Unionsparteien gespannt nach Bonn. Ein Parteitag soll darüber abstimmen, ob die SPD in Koalitionsverhandlungen eintritt. Die Mehrheit fällt mit 56 Prozent überraschend knapp aus. In den anschließenden Gesprächen fordert die SPD-Spitze mehr Zugeständnisse von Merkel. Sonst, diesen Joker setzen Schulz & Co. immer wieder ein, wird das nichts. Sonst stimmen die Mitglieder dem Koalitionsvertrag nicht zu. Am 7. Februar schließen die Parteien die Verhandlungen ab. Die Ressorts Finanzen, Außen sowie Arbeit und Soziales sollen an die SPD gehen. Die Kanzlerin hat den Sozialdemokraten viel, aus Sicht vieler in den eigenen Reihen zu viel gegeben. In der CDU gärt es. Wieder gerät Merkel unter Zugzwang, massiv sogar. Wird der CDU-Parteitag, der Ende Februar über die Große Koalition abstimmen soll, zum Desaster?
Er wird es nicht. Unter größtem Druck beweist die Kanzlerin großes Geschick. Eine Woche vor dem Parteitag macht sie sich daran, den innerparteilichen Frieden wieder herzustellen. Am 19. Februar präsentiert sie die ihr nahestehende Annegret Kramp-Karrenbauer als neue CDU-Generalsekretärin. Bei der Vorstellung wirkt Merkel gelöst, sie lacht viel. Die Reaktionen in der CDU sind positiv. Kurz vor dem Parteitag stellt die Kanzlerin die letzten Skeptiker ruhig. Sie will ihren vielleicht größten Widersacher Jens Spahn zum Gesundheitsminister machen. Merkel hat etwas getan, worauf viele gewartet haben: Mit den Personalien stellt sie die Weichen für ihre Ablösung. Nur der Zeitpunkt ist noch offen. Merkel hat nun nichts mehr zu befürchten, der Parteitag verläuft harmonisch. Durchschnaufen kann sie aber erst ein paar Tage später. Am 4. März gibt die SPD das Ergebnis ihres Mitgliederentscheids bekannt: 66 Prozent für die GroKo, Merkels vierte Amtszeit ist sicher.
Einfach dürfte sie nicht werden. Die neue Bundesregierung ist eine Zwangsehe. Sie wird die Wähler erst überzeugen müssen, dass sie mehr ist als ein "Weiter so". Und nicht nur das. Die Sozialdemokraten dürften alles versuchen, um ein möglichst unangenehmer und aufmüpfiger Koalitionspartner zu sein. Mit Horst Seehofer und Jens Spahn sitzen zwei der größten internen Kritiker Merkels künftig am Kabinettstisch. Dazu dürfte der Druck auf sie steigen, im Laufe der kurzen Legislatur so etwas wie eine Übergabe einzuleiten. An diesem Mittwoch geht die Ära Merkel in ihre vierte Runde. Zum letzten Mal wird sie im Bundestag vereidigt. Vielleicht stimmt der eine oder andere trotzige SPD-Abgeordnete nicht für sie. Die Kanzlerin wird es verkraften, sie hat schließlich schon ganz andere Dinge überstanden.
Quelle: n-tv.de
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