Keine "Messer-Epidemie" in Deutschland

  23 März 2018    Gelesen: 1057
Keine "Messer-Epidemie" in Deutschland

Die AfD warnt vor einer "Messer-Epidemie". Die "Bild" berichtet von einer Zunahme solcher Delikte von bis zu 300 Prozent. Doch vorliegende Zahlen zeigen ein differenziertes Bild.

Das Blatt präsentierte dazu Zahlen aus den Bundesländern Hessen, NRW und Berlin sowie aus der Stadt Leipzig. Hier liege "die Zahl der gefährlichen Körperverletzungen, bei denen eine Messer eine Rolle spielte, laut Polizeilichem Auskunftssystem Sachsen im Jahr 2017 (138 Fälle) um 300 Prozent höher als im Jahr 2011 (33 Fälle)".

Zahl fragwürdig

Die Polizei in Sachsen teilte auf Anfrage mit, ein Anstieg könne nur als Tendenzaussage getroffen werden. Aufgrund von Verjährungs- oder Löschfristen seien Fälle aus dem Jahr 2011 möglicherweise nicht mehr zu recherchieren. Das heißt: Wahrscheinlich lag die Zahl der Delikte mit Stichwaffen damals höher, als es nun Abfragen nahelegen.

Wie hoch der Anstieg tatsächlich sei, könne man daher nicht sagen - auch nicht prozentual, betonte ein Polizeisprecher. Zudem gebe es ohnehin Unschärfen, da auch Delikte registriert würden, bei denen das Opfer eines Angriffs ein Messer zur Verteidigung eingesetzt habe.

Tatort Flüchtlingsunterkunft

Bei den Tatorten sei aber ein Schwerpunkt zu erkennen, so der Sprecher weiter: Unterkünfte von Asylbewerbern. So handelt es sich bei vielen Opfern von Attacken auch um Syrer, Afghanen oder Iraker, wie die Polizei in einer Auswertung für den ARD-faktenfinder dokumentiert. Unter den deutschen Opfern finden sich demnach Betreuer oder Sicherheitsmitarbeiter in solchen Unterkünften.

Der ARD-faktenfinder hat alle Bundesländer nach Zahlen zur Kriminalität mit Stichwaffen gebeten. In vielen Ländern werden solche Delikte aber nicht ausgewiesen - darunter Bayern, Bremen und Sachsen-Anhalt. Das Innenministerium in Magdeburg teilte mit, man wolle sich auch nicht zu "Eindrücken" bei der Kriminalität äußern.

NRW führt neue Statistik ein

Auch in NRW werden Angriffe mit Stichwaffen bislang nicht gesondert gezählt, dies soll aber bald geschehen. Dabei soll differenziert werden, um welche Art von Stichwaffe es sich handelt.

Die SPD-Fraktion in NRW fand nach eigenen Angaben in einer Auswertung von Polizei-Pressemitteilungen heraus, dass es von September 2017 bis Anfang März dieses Jahres 570 Vorfälle mit Stichwaffen in dem Bundesland gab. Darunter waren schwere Fälle: In Lünen erstach im Januar ein 15-Jähriger einen Mitschüler. Im November wurde der Bürgermeister von Altena von einem 56-jährigen Deutschen mit einem Messer attackiert. Die Anklage geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus; der Bürgermeister war für sein Engagement für Flüchtlinge bekannt.

Anstieg in Hessen und Rheinland-Pfalz

Einige Länder erheben bereits Zahlen zu Delikten mit Messern: In Hessen ist diese Zahl deutlich angestiegen: 2012 waren es 970 Fälle, 2017 wurden 1194 registriert. Ein Anstieg um rund 20 Prozent. Die Aufklärungsquote liegt stabil bei mehr als 90 Prozent.

In Rheinland-Pfalz teilte das Innenministerium auf eine AfD-Anfrage mit, die Fallzahlen mit "Messer" und "stechen" seien ebenfalls gestiegen. 2015 wurden 111 solcher Delikte gezählt (davon 29 versuchte Taten), 2017 waren es 146 (48 Versuche). Aus den Angaben geht zudem hervor, dass sich viele Täter und Opfer kannten, oft waren sie durch enge Freundschaften, Ehe, Familie oder Partnerschaft verbunden. Die ganz überwiegende Zahl der Täter ist männlich.

Bei der Nationalität fällt sowohl bei Tätern als auch Geschädigten eine relativ hohe Zahl von Afghanen und Syrern auf. Ein weiteres Indiz dafür, dass Konflikte zwischen Flüchtlingen eine große Rolle spielen.

Zahlen aus Berlin relativ stabil

In Berlin gab es laut "Bild"-Zeitung 2017 pro Tag sogar sieben Messer-Attacken. Basis für diese Angabe ist eine Antwort des Berliner Senats auf eine CDU-Anfrage. Darin heißt es:

 Für das Jahr 2017 wurde insgesamt in 2737 Fällen von Straftaten gegen das Leben sowie aus den Bereichen der Sexual-und Rohheitsdelikte ein Messer als Tatmittel erfasst (Quelle: Data Warehouse, Stand: 01.03.2018).


Diese Zahl lag allerdings 2012 bereits bei 2708 erfassten Straftaten; sie ging dann zurück und nahm in den vergangenen Jahren wieder zu. Die Steigerung von 2012 bis 2017 liegt allerdings bei 29 Fällen - angesichts von wachsenden Bevölkerungs- und Tourismuszahlen ein eher moderater Anstieg.

Schaut man sich einzelne Deliktfelder an, so wird deutlich, dass die Zahl der Straftaten mit Messern seit Jahren relativ gleichbleibend bis rückläufig ist, wie eine Aufstellung der Polizei Berlin zeigt. 2017 gab es insgesamt wieder einen Anstieg - bei Mord und Totschlag hingegen einen weiteren Rückgang.

Weniger Delkte in Schleswig-Holstein

In Schleswig-Holstein sank die Zahl der Delikte mit Stichwaffen: 2016 wurden hier 1132 Fälle registriert, im vergangenen Jahr waren es 988. Ältere Zahlen liegen nicht vor.

Die Daten zeigen keine vollständige oder einheitliche Entwicklung. Aber eine generelle erhebliche Zunahme von Straftaten mit Stichwaffen oder sogar eine "Messer-Epidemie" lassen sich nicht daraus belegen.

Änderung bei Sexualdelikten

Was neue Polizeiliche Kriminalstatistiken (PKS) hingegen ausweisen: Die Zahl der Sexualdelikte ist in mehreren Bundesländern deutlich gestiegen. Die Ministerien erklärten allerdings übereinstimmend, dies sei Resultat einer veränderten Zählweise. So würden nun unter anderem auch Fälle von sexueller Nötigung in dieser Statistik erfasst.

Hintergrund

Aufgrund von Gesetzesänderungen zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung ist eine Vergleichbarkeit der Fallzahlen 2017 mit den Vorjahren nur eingeschränkt gewährleistet. Strafbar ist danach jede sexuelle Handlung, die gegen den erkennbaren Willen einer Person vorgenommen wird. Es werden demnach auch sexuelle Übergriffe von § 177 StGB erfasst, die nicht mit einer Nötigung des Opfers einhergehen. Neben den sexuellen Übergriffen gelten außerdem auch sexuelle Belästigungen (§ 184 i StGB) und Straftaten aus Gruppen (§ 184 j StGB) als Sexualstraftat. (Quelle: Polizei Rheinland-Pfalz)

Weniger Kriminalität

Insgesamt zeichnet sich ein Rückgang der Kriminalität ab. Mehrere Bundesländer haben bereits ihre Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2017 vorgelegt. In Hessen wurden laut Innenministerium deutlich weniger Straftaten registriert. Die Kriminalitätsbelastung liege auf dem Stand von 1980. Zudem steige die Aufklärungsquote.

In Baden-Württemberg sei die Kriminalitätsbelastung auf einen historischen Tiefstand gesunken, teilte das Innenministerium mit, und liege "so niedrig wie seit 1990 nicht mehr". Brandenburg konnte insgesamt ebenfalls sinkende Zahlen vermelden, allerdings stieg hier die Zahl der Gewaltkriminalität deutlich.

Im Norden ging die Kriminalität laut Polizei ebenfalls zurück. "Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, ist so gering wie seit über 35 Jahren nicht mehr", sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius. In Schleswig-Holstein sank die Zahl der Straftaten auf den niedrigsten Stand seit 1980. Auch Hamburgs Polizei meldet, das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, sei so niedrig wie seit 1980 nicht mehr.

"Gefühlte Sicherheitslage schlechter"

In Berlin sank die Zahl der Straftaten laut Polizei im vergangenen Jahr um 8,5 Prozent. NRW meldet 6,5 Prozent weniger Straftaten, die Gewaltkriminalität sank um 4,2 Prozent. "Nordrhein-Westfalen ist nachweisbar sicherer geworden. Das ist eine gute Nachricht und ein schönes Lob für die Arbeit unserer Polizei", sagte der Innenminister. Es zeige sich, "dass die tatsächliche Sicherheit besser ist als die gefühlte".

In Niedersachsen wurde gemeinsam mit den Polizei-Statistiken für 2017 eine Dunkelfeldstudie vorgestellt. Demnach sank das Sicherheitsgefühl leicht - trotz des objektiven Rückgangs der Kriminalitätsbelastung. Davon betroffen seien vor allem jüngere Frauen.

Kriminalität als bestimmendes Thema

Demnach äußerten 12,9 Prozent aller Befragten eine (eher) hohe Befürchtung, Opfer einer Straftat zu werden. Dies entspricht dem bisher höchsten Wert und einer signifikanten Steigerung um drei Prozentpunkte im Vergleich zu 2015. Diese Steigerung des allgemeinen Unsicherheitsgefühls sei, heißt es in der Studie, möglicherweise neben diversen Terroranschlägen auch auf die Vorkommnisse in der Neujahrsnacht in Köln in Kombination mit einer nachfolgenden Konzentration der politischen Diskussion auf die innere Sicherheit zurückzuführen. "Kriminalität und Terror waren seither bestimmende Themen."

Und mit Behauptungen über eine "Messer-Epidemie" werden solche Debatten und Ängste weiter angeheizt.

tagesschau.de

 


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