Der ehemalige ungarische Außenminister und Botschafter in Deutschland, Péter Balázs, vermutet zwar, dass die Geduld Brüssels mit dem ungarischen Premierminister langsam endet. Im Interview mit n-tv.de erklärt der parteilose Balázs allerdings auch, dass selbst Kürzungen bei der neuen Budgetrunde Orbáns Haltung und seine Politik nicht ändern würden. Nur ein Regierungswechsel könne Ungarn einen neuen Kurs bringen - der scheint aber alles andere als wahrscheinlich.
n-tv.de: Herr Balazs, wie nennt man eigentlich die ungarische Version des Brexit?
Peter Balázs: Ein Ausstieg Ungarns aus der Europäischen Union kommt nicht infrage.
Warum eigentlich nicht? Premierminister Viktor Orbán hat eine Volksbefragung unter dem Motto "Stoppt Brüssel" abgehalten, er bezeichnet die Vertragsverletzungsverfahren als "lächerlich" und die EU als "Unterstützer von Terroristen".
Orbán führt seinen "Freiheitskampf" gegen die EU innerhalb der EU, so kann er gleichzeitig alle Vorteile der Union genießen. Hunderttausende Ungarn arbeiten in westlichen Mitgliedstaaten, das Land gehört zu den größten Netto-Empfängern, bekommt Gelder in einer Größenordnung von drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Angriffe gegen Brüssel sind nur Rhetorik, Orbán will Ungarn nicht aus der EU herausführen.
Aber trotzdem weiter weg vom Westen, den die Politiker von Orbáns Fidesz-Partei ja immer wieder für seine angebliche Schwäche verhöhnen?
Wenn Orbán an der Macht bleibt, wird er höchstwahrscheinlich die Distanz zu den westlichen Partnern behalten und seine Sympathie für die Türkei, Russland, China und Iran zum Ausdruck bringen.
Ungarn hätte gern weniger EU, Verbündete für den Kampf gegen eine noch engere Zusammenarbeit der EU hat Ungarn aber wenige, nach dem Brexit sogar einen weniger. Am ehesten kann Ungarn im Visegrad-Bündnis mit Polen, Tschechien und der Slowakei Unterstützung finden. Wie fest steht dieser Visegrad-Block eigentlich?
Visegrad ist ganz informell. Es gibt keine Struktur, keine Verpflichtungen, keine Institutionen, keine gemeinsame Gesetzgebung. Es hängt immer von den aktuellen Regierungen ab. Zurzeit arbeiten Ungarn und Polen eng zusammen. Aber die anderen beiden nehmen ihren eigenen Weg. Tschechien befindet sich nach den Wahlen in einer ungewissen Situation, die Slowakei ist als einziges Land auch Mitglied in der Eurozone und hat andere Interessen. Sogar innerhalb des Bündnisses zwischen Ungarn und Polen zeigen sich Risse, zum Beispiel was die Beziehungen zu Russland anbelangt. Da haben die Polen andere Überzeugungen als Orbán, dem engsten Freund Putins innerhalb der EU.
Orbán verweist im Wahlkampf gern auf die verbesserte wirtschaftliche Lage im Land. Dabei sind 60 Prozent der staatlichen Investitionen von der EU bezahlt, ohne das Geld aus Brüssel würde Ungarn wohl in einer Rezession stecken, zumindest in einer schwierigen Lage. Ist das den Wählern und Wählerinnen bewusst?
Ja, die Leute wissen das schon. Die bedeutende Mehrheit der Bevölkerung befürwortet ja auch die Mitgliedschaft in der EU.
Sie haben gesagt, Orbán will den Kampf gegen die EU innerhalb der EU führen. Aber wie lange kann er noch in der Union bleiben, bei all der feindlichen Rhetorik, bei allen autoritären Tendenzen im Land? Wo liegt die rote Linie von Brüssel?
Wir sind sehr nah an dieser roten Linie. Brüssel sind ja konkret die anderen Mitgliedsstaaten - wie lange tolerieren sie, also besonders die Nettozahler wie Deutschland, noch die ungarische Haltung und Politik? Bald beginnen die Verhandlungen über das neue Budget und ich befürchte ganz ernsthafte Konsequenzen.
Angela Merkel hat vorgeschlagen, die Verteilung der Gelder aus dem Strukturfonds an die Aufnahme von Flüchtlingen zu knüpfen. Glauben Sie, dass Orbán mit diesen finanziellen Drohgebärden zum Einlenken zu bewegen ist?
Orbán denkt ohnehin nicht weit in die Zukunft. Er hat einen einzigen Plan: Die Wahlen am Sonntag gewinnen, an der Macht bleiben und weitere EU-Gelder an einen sehr engen Kreis von Freunden verteilen. Das ist sein Programm. Seine Partei Fidesz hat nicht einmal ein Wahlprogramm.
Wie bitte?
Ja, das ist merkwürdig, eine Regierungspartei, die ohne Programm in eine Wahl geht. Sie machen eine Kampagne gegen Migranten, George Soros, die EU und neuerdings auch die Uno. Über etwas anderes sprechen sie nicht. Es ist reiner Populismus, keine Antwort auf die ernsthaften Probleme des Landes. Ihre Botschaft lautet: Wir machen weiter so. Aber das ist keine gute Botschaft für die Bevölkerung. Die Probleme bleiben - das Gesundheitswesen, die Schulen, die Emigration der Arbeitskräfte in den Westen, die schlechte Außenpolitik. Wenn alles so bleibt, entwickelt sich Ungarn in die falsche Richtung.
Von der Anti-Soros-Kampagne sind auch Sie betroffen - Sie arbeiten an der Central European University CEU, gegründet von George Soros, eine Universität, die Orbán mit einem eigens darauf zugeschnittenen Hochschulgesetz schließen wollte. Die EU hat deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren eröffnet, mittlerweile hat die Regierung sich kompromissbereit gezeigt. Wie erleben Sie diese Kampagne?
Die Ungewissheit für die Universität ist natürlich gar nicht gut für alle, die hier studieren und arbeiten. Aber es ist ja nicht nur die CEU. Auch andere gesellschaftliche Initiativen, die eine Finanzierung von Soros oder dem Open Society Institute bekommen haben und dafür, entsprechend dem russischen Muster, als „ausländische Agenten“ gelten, die sich mit Naturschutz oder der Arbeit mit Roma oder anderen wichtigen Fragen befassen, um die sich die Regierung nicht kümmert - die geraten alle unter Druck.
Bei den Wahlen am Sonntag rechnen die meisten Beobachter mit einem klaren Sieg Orbáns, Sie auch?
Das ist noch gar nicht vorhersehbar. Fidesz kann ganz leicht die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament verlieren. Manche gehen sogar davon aus, dass sie auch die absolute Mehrheit nicht halten können.
Für wie realistisch halten sie das?
Nicht sehr. Aber es ist nicht ausgeschlossen. Es gibt 199 Mandate im Parlament, 106 kommen aus den Wahlkreisen. Dort kann man die Wahlen gewinnen. Es gibt Prognosen, dass vielleicht die Hälfte von einer der Oppositionsparteien gewonnen werden könnte.
Wenn Orbán tatsächlich vielleicht sogar die absolute Mehrheit verliert - könnte ihn das zum Umdenken zwingen, ihn wieder auf eine andere Linie führen?
Nein. Ein Regierungswechsel ist die Lösung. Es gibt keinen anderen Ausweg. Orbán muss gehen.
Mit Péter Balázs sprach Christian Bartlau
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