Die Blutspur der RAF

  15 April 2018    Gelesen: 1771
Die Blutspur der RAF

1970 wird die RAF gegründet. 28 Jahre später gibt die linksextreme Terrorgruppe ihre Selbstauflösung bekannt. Dazwischen ermordet sie Dutzende Menschen, verübt Anschläge und Attentate. Abgeschlossen ist die Aufarbeitung auch 20 Jahre später nicht.

 

Am 20. April 1998 verkündete die Rote Armee Fraktion in einer Mitteilung ihre Auflösung. "Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte", heißt es in dem Schreiben, das der Nachrichtenagentur Reuters zugespielt wurde. Von Reue findet sich in der Erklärung keine Spur. Ganz im Gegenteil: "Wir stehen zu unserer Geschichte", heißt es da. Ganz am Schluss wird aller ums Leben gekommenen Mitglieder der Terrorgruppe gedacht.

Doch was war mit den Opfern des Terrors? Fast drei Jahrzehnte waren die Mitglieder der RAF für Morde, Anschläge, Entführungen und Banküberfälle verantwortlich. 34 Menschen wurden von ihnen ermordet. Hunderte Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer. Dabei ging es aber nicht nur um bekannte Aktionen, die in der Öffentlichkeit breiten Widerhall fanden. Viele Opfer, darunter etliche Beamte, waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort.

Polizisten, Soldaten, Diplomaten

Das erste Mordopfer der RAF ist der Polizist Norbert Schmid. Zusammen mit einem Kollegen überprüft der Zivilfahnder am 22. Oktober 1971 vor einem Einkaufszentrum in Hamburg eine Verdächtige - die sich als die Terroristin Margrit Schiller herausstellt. Weitere RAF-Mitglieder befinden sich in der Nähe, darunter Ulrike Meinhof. In einem Schusswechsel wird Schmid tödlich getroffen. Das zweite Opfer ist Herbert Schoner. Der Polizeiobermeister kontrolliert am 22. Dezember 1971 in Kaiserslautern einen verdächtigen Kleinbus - nicht ahnend, dass es das Fluchtauto eines Banküberfalls der RAF ist. Schoner wird erschossen. Auch das dritte Opfer ist Polizist: Hans Eckhardt, Leiter der SOKO "Baader/Meinhof" in Hamburg, wird am 3. März 1972 angeschossen, als die Polizei zwei RAF-Mitglieder in einer konspirativen Wohnung stellt. Nach 20 Tagen im Koma stirbt er.

In der sogenannten Mai-Offensive der RAF sterben 1972 vier Menschen bei sechs Bombenanschlägen. Am 11. Mai kommt bei einem Anschlag auf das V. Korps der US-Armee in Frankfurt am Main der Offizier Paul A. Bloomquist ums Leben. Am 24. Mai sterben in Heidelberg beim Anschlag auf das Hauptquartier der US-Streitkräfte in Europa drei weitere amerikanische Soldaten: Clyde R. Bonner, Ronald A. Woodwardund Charles L. Peck. Bei diesen und weiteren Anschlägen in München, Augsburg, Karlsruhe und Hamburg - Ziele sind die Polizei, ein Richter am Bundesgerichtshof sowie der Axel-Springer-Verlag - werden mehr als 70 Menschen zum Teil schwer verletzt. In der Folge verstärkt die Polizei ihre Fahndung nach den Terroristen - mit Erfolg. Bis Ende Juni 1972 wird die gesamte damalige Führungsriege der RAF gefasst, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Meinhof. Allerdings gibt es auch ein unschuldiges Opfer: In Stuttgart erschießt die Polizei am 25. Juni Iain McLeod, den man fälschlicherweise für einen RAF-Unterstützer hält.

Nach der Verhaftung eines Großteils der sogenannten ersten Generation der RAF bildet sich eine neue Führungsspitze heraus, die aber in Kontakt mit den Inhaftierten steht. Ihr erstes Ziel ist es, diese freizupressen. Dafür besetzen am 24. April 1975 sechs Terroristen Teile der deutschen Botschaft in Stockholm. Dort ermorden sie zwei Diplomaten: den Militärattaché Andreas von Mirbach und den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart. Mehr als ein Jahr später, am 7. Mai 1976, wird im hessischen Sprendlingen der Polizist Fritz Sippel bei einer Routineverkehrskontrolle von einem RAF-Mitglied erschossen.

"Offensive '77" und "Deutscher Herbst"

Im Folgejahr beginnt die RAF mit der "Offensive '77". Erste Todesopfer sind der Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbelsowie Georg Wurster, der Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft. Sie werden am 7. April 1977 vom selbsternannten "Kommando Ulrike Meinhof" - die sich 1976 im Gefängnis das Leben genommen hatte - erschossen, das Bubacks Dienstwagen an einer roten Ampel unter Beschuss nimmt. Am 30. Juli versuchen drei Terroristen, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, aus seinem Haus zu entführen. Doch Ponto leistet Widerstand und wird durch mehrere Kugeln tödlich verletzt. Im August scheitert ein Anschlag der RAF auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe.

Schließlich erlebt der Terror des Jahres 1977 im "Deutschen Herbst" seinen Höhepunkt. Es beginnt mit der Entführung des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sowie des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer. Ziel der Entführung ist es, RAF-Mitglieder aus Gefängnissen freizupressen. Dabei werden sein Fahrer Heinz Marcisz sowie die drei Polizisten Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler erschossen. Am 22. September stirbt der niederländische Polizist Arie Kranenburg bei dem Versuch, das RAF-Mitglied Knut Folkerts festzunehmen. Ein weiterer Beamter wird schwer verletzt.

Da die Bundesregierung nach der Schleyer-Entführung eine Verhandlung mit Terroristen ablehnt, kapern Mitglieder der mit der RAF verbündeten Volksfront zur Befreiung Palästinas am 13. Oktober 1977 die Lufthansa-Maschine "Landshut" und ermorden später deren Kapitän Jürgen Schumann. In Somalia wird das Flugzeug am 18. Oktober von der GSG 9 gestürmt - alle Geiseln können lebend befreit werden. Im Gefängnis Stammheim nehmen sich daraufhin führende RAF-Terroristen der ersten Generation das Leben, darunter Baader und Ensslin. Noch am selben Tag wird Hanns Martin Schleyer im französischen Elsass von seinen Entführern ermordet. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.

Am 24. September 1978 überraschen zwei Polizisten mehrere RAF-Mitglieder bei Schießübungen in einem kleinen Wald in Dortmund. Beim folgenden Schusswechsel stirbt der Polizist Hans-Wilhelm Hansen. Am 1. November 1978 wird der 19-jährige niederländische Zollbeamte Dionysius de Jong bei einer Passkontrolle bei Kerkrade erschossen, sein Kollege Johannes Petrus Goemans erliegt wenig später seinen Verletzungen. Zwei weitere Beamte werden schwer verletzt. Am 19. November 1979 wird die unbeteiligte Edith Kletzhändler bei einem Schusswechsel zwischen Polizei und RAF-Mitgliedern nach einem Banküberfall in Zürich durch einen Querschläger tödlich getroffen - allerdings ist unklar, ob der Schuss von Polizisten oder Terroristen abgegeben wurde.

Die RAF verübt in dieser Zeit noch weitere Anschläge. Am 25. Juni 1979 überlebt der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Alexander Haig, die Detonation eines Sprengsatzes im belgischen Casteau. Am 31. August 1981 gibt es mehrere Verletzte bei einem Bombenanschlag auf das Hauptquartier der US-Luftstreitkräfte in Ramstein. Kurz darauf, am 15. September, wird der gepanzerte Dienstwagen des Oberbefehlshabers der US-Landstreitkräfte in Europa, Frederick James Kroesen, mit einer Panzerabwehrrakete beschossen. Der General und drei Begleiter werden zum Teil schwer verletzt. 1982 aber wird in einem Erdloch in Hessen ein Depot der RAF entdeckt - mit Hinweisen auf weitere Lager von Waffen, Dokumenten und Bargeld. Durch lange Observation werden führende Mitglieder der zweiten RAF-Generation verhaftet, darunter Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Andere Terroristen tauchen mit Hilfe der Staatssicherheit, dem ostdeutschen Geheimdienst, in der DDR unter. Viele Unterstützer haben sich längst abgewandt, politisch sind die Terroristen isoliert.

Die Morde der dritten Generation

Über die dritte Generation der RAF wissen Behörden und Historiker weniger als über ihre Vorgänger. Einige der geschätzt 20 Mitglieder sind der Bundesanwaltschaft nicht einmal namentlich bekannt, nur drei Täter stehen fest. Ihnen geht es nicht mehr um Stadtguerilla oder die Freipressung der eigenen Leute, sondern - in Kooperation mit internationalen Terrorgruppen - um gezielte Morde und Anschläge. Welche Täter dahinter stecken, bleibt meist im Dunkeln, es gibt kaum Spuren, was für eine Professionalisierung der Terroristen spricht. Das gilt etwa für den Mord am Industriellen Ernst Zimmermann, der am 1. Februar 1985 in seinem Haus in Gauting erschossen wird. Am 7. August desselben Jahres wird der US-Soldat Edward Pimental mit einem Kopfschuss ermordet - den Terroristen geht es um seine Zugangskarte zur Rhein-Main Air Base. Am Folgetag wird dort ein Auto mit Sprengstoff abgestellt. Bei der Detonation sterben der Soldat Frank Scarton und die Zivilangestellte Becky Jo Bristol. 23 Menschen werden verletzt.

Am 9. Juli 1986 werden der Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts sowie sein Fahrer Eckhard Gropplerdurch einen Bombenanschlag ermordet. Am 10. Oktober des Jahres wird der Diplomat Gerold von Braunmühl, der im Auswärtigen Amt arbeitet, erschossen. Alfred Herrhausen, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, stirbt am 30. November 1989 in Bad Homburg durch einen Bombenanschlag - der Sprengsatz war auf einem Fahrrad am Straßenrand deponiert. Dagegen überlebt Staatssekretär Hans Neusel am 27. Juli 1990 einen Bombenanschlag an einer Autobahnabfahrt bei Bonn. Am 1. April 1991 wird Karsten Rohwedder, Präsident der Treuhandanstalt, von einem Scharfschützen erschossen. Seine Frau wird verletzt.

Im Jahr darauf startet Justizminister Klaus Kinkel ein Aussteigerprogramm, einige RAF-Mitglieder erhalten Hafterleichterungen. Man wolle "die Eskalation zurücknehmen", heißt es von der Terrorgruppe, die in der Frage aber gespalten ist. Die letzte Tat der RAF ist ein Sprengstoffanschlag auf das im Bau befindliche Gefängnis Weiterstadt Ende März 1993. Mehrere Gebäude werden durch die Detonation der 200 Kilogramm Sprengstoff zerstört, Menschen kommen nicht zu Schaden. Doch noch einmal machen die Terroristen Schlagzeilen: Bei einem großangelegten Einsatz zur Festnahme der RAF-Mitglieder Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen wird der GSG-9-Beamte Michael Newrzella von Grams erschossen. Ein weiterer Beamter wird schwer verletzt. Auch Grams stirbt - die Umstände sind unklar, es gibt Vorwürfe, er sei von der Polizei gezielt getötet worden.

Das lange Nachleben

In den fünf Jahren bis zu ihrer Selbstauflösung verübt die RAF keine Anschläge mehr. Dann folgt die Erklärung vom 20. April 1998. "Das Ende dieses Projekts zeigt, dass wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten", heißt es darin. "Aber es spricht nicht gegen die Notwendigkeit und Legitimation der Revolte." Man verteidigt die eigenen Taten - auch wenn sie nichts gebracht haben. Selbstkritik gibt es nicht. Die Dutzenden Todesopfer und Hunderten Verletzten werden nicht genannt - außer Hanns Martin Schleyer, dessen Ermordung die RAF ausführlich rechtfertigt. Wegen seiner Mitgliedschaft in NSDAP und SS wird er als Symbol für die personelle wie politische Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik dargestellt. Sich selbst sieht die RAF als Opfer eines autoritären Staates, der - wie die Nationalsozialisten - kritische Stimmen verfolgen und politische Gegner "auslöschen" wolle.

Nach ihrer Selbstauflösung verschwindet die RAF nie ganz aus der öffentlichen Debatte. Juristisch sind viele Fälle noch nicht abgeschlossen. Die Ermordung Bubacks etwa beschäftigt bis heute die Justiz, da die Täterschaft nicht zweifelsfrei geklärt ist. Noch 2012 wird Verena Becker wegen Beihilfe zum Mordanschlag zu mehreren Jahren Haft verurteilt - sie kommt 2014 als (vorerst) letzte ehemalige RAF-Terroristin frei. Insgesamt werden 26 Terroristen zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt. Geplante Begnadigungen oder Entlassungen lösen bis ins neue Jahrtausend heftige gesellschaftliche Kontroversen aus.

Andere mutmaßliche RAF-Mitglieder leben weiter im Untergrund - oder sie sind bisher unbekannt. Nach drei namentlich bekannten mutmaßlichen Terroristen fahndet das Bundeskriminalamt weiterhin: Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Sie sollen 2015 und 2016 an zwei gescheiterten und einem erfolgreichen Überfall auf Banken und Geldtransporterbeteiligt gewesen sein. Der Bundesgerichtshof ermittelt zudem zum Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Allerdings gibt es Zweifel, dass die Überfälle einen politischen Hintergrund haben. Sie könnten schlicht der Geldbeschaffung der im Untergrund lebenden mutmaßlichen Terroristen dienen.

Quelle: n-tv.de

 


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