Pakistans erste Stadtrundfahrt: Karatschi, meine Schöne

  23 Dezember 2015    Gelesen: 1363
Pakistans erste Stadtrundfahrt: Karatschi, meine Schöne
Sie gilt als eine der gefährlichsten Metropolen der Welt: Junge Einheimische bieten nun Rundfahrten durch Karatschi an. Es ist eine Liebeserklärung an ihre Heimat - und für Reisende eine Tour in eine bessere Vergangenheit.
Man könnte Angst haben vor Karatschi. Allein schon wegen der mehr als 20 Millionen Menschen - das sind mehr, als viele Länder Einwohner haben.

Karatschi ist ein Labyrinth, ein Moloch, eine architektonische Abwärtsspirale, ein Stadt gewordenes Chaos. Und an kaum einem anderen Ort werden so viele Menschen ermordet wie hier. Mehrere Tausend jährlich. Opfer von politischen Morden, Raubmorden, Bandenkriegen, Mafiakämpfen und islamistischem Terror.

"Karatschi ist schön!", sagt Jehanzeb Salim. "Voller Geschichte!" Der 20-Jährige stammt aus Karatschi. "Das ist meine Stadt, meine Heimat. Ich finde es schade, dass es immer nur um Gewalt geht, wenn man über Karatschi spricht." Aus ihm spricht der Wunsch eines jungen Menschen, seine Heimat in ein besseres Licht zu stellen.

Gemeinsam mit seinem Freund Atif Bin Arif, Sohn eines Reisebürobesitzers, organisiert Salim nun Stadtrundfahrten durch Karatschi, um ein "softeres Bild" zu vermitteln, wie er sagt. Super Savari Express heißt das Unternehmen, das im Januar seinen ersten Geburtstag feiert. Es sind die ersten organisierten Stadtbesichtigungen überhaupt in Pakistan. Savari bedeutet so viel wie Tour, Fahrt, Reise. Arif ist Geschäftsführer, Salim organisiert die Führungen, noch jedenfalls. Er hat die Schule abgeschlossen und hofft nun auf ein Studium in Kanada.

Selbst Einheimische kennen ihre Stadt nicht

Etwa 4000 Menschen haben Arif, Salim und mehrere Stadtführer, die für sie arbeiten, bisher ihr Karatschi gezeigt, davon etwa ein Zehntel Ausländer - Geschäftsleute, internationale Hochzeitsgäste, Diplomaten und Entwicklungshelfer, die hier leben.

Die Zeiten, als Europäer und Amerikaner in den Siebzigerjahren hierherkamen, bunte Stoffe, Gewürze, Antiquitäten auf den Basaren kauften, manche sich Drogen in Bars besorgten, sind längst vorbei. Mitte der Achtziger brachen die ersten Kämpfe zwischen rivalisierenden Parteien aus, seither hat sich die Stadt nie wieder beruhigt. Seit 9/11 geht der Tourismus hier gegen null.

In Karatschi soll sich der inzwischen gestorbene Taliban-Chef Mullah Omar versteckt haben. Der "Wall Street Journal"-Reporter Daniel Pearl wurde im Frühjahr 2002 in Karatschi entführt und getötet. Im November 2008 startete von hier ein zehnköpfiges Terrorkommando ins indische Mumbai und ermordete dort 166 Menschen. Alle paar Tage explodiert in der Stadt eine Bombe, statistisch stirbt täglich ein Polizist im Dienst.

"Wir richten uns vor allem an die Einheimischen, die ihr Leben in Karatschi verbringen, aber oft erstaunlich wenig über ihre Stadt wissen", sagt Salim. "Das ist vor allem ein Bildungsproblem", sagt er. Aber auch die Gebildeten, Wohlhabenden haben viele historisch wichtige Orte noch nie oder jahrelang nicht mehr besucht, weil sie sich daran gewöhnt haben, aus Angst ihre Stadtviertel nicht zu verlassen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.
Das müsse sich ändern, dachte sich Arif, als er Anfang des Jahres begann, Stadtrundfahrten durch Karatschi anzubieten. Zusammen mit Freunden klapperten sie verschiedene Sehenswürdigkeiten ab, sprachen mit den Verantwortlichen und kündigten an, dass sie demnächst mit Gruppen ankommen würden. "Anfangs sagten viele nein, sie waren misstrauisch", erinnert sich Arif. "Aber inzwischen kennt uns jeder."

Fresko vom Michelangelo Südasiens

Die Tour beginnt um 8 Uhr morgens, wenn Karatschi noch schläft. Für größere Gruppen hat "Super Savari Express" einen bunten Bus hergerichtet, und die mutigeren Teilnehmer sitzen dann auf dem Dach - so, wie man eben in Pakistan unterwegs ist. Für Einzeltouren oder zu zweit gibt es eine Motorrikscha. Die Rundfahrt kostet inklusive einem Frühstück und einer Teepause 2500 Rupien pro Person, umgerechnet gut 20 Euro - viel Geld in einem Land, in dem der Mindestlohn bei etwa 70 Euro im Monat liegt. Dafür begleiten Sicherheitsleute die Gruppe.

Und tatsächlich, die Tour vermittelt eine Ahnung von dem Reichtum und der Vielfalt, die diese Stadt in Vergangenheit einmal ausgezeichnet haben. Bis zu fünf Stunden ist man unterwegs, ausschließlich im Stadtteil Saddar, dem alten Karatschi, wo die britischen Kolonialherren in vergangenen Jahrhunderten ihre Herrschaftshäuser und Angehörige unterschiedlicher Religionen ihre Gotteshäuser bauten.

Da ist zum Beispiel die Frere Hall, eine 1865 eröffnete Gemeindehalle, benannt nach dem britischen Diplomaten Sir Henry Bartle Edward Frere. Die Decke ist zur Hälfte bemalt vom pakistanischen Maler Sadequain Naqqash. Er gilt als der Michelangelo Südasiens. Als er 1987 starb, war sein Werk noch nicht vollendet. Man nennt ihn auch den "heiligen Sünder", weil er seine Kalligrafien und religiös-islamischen Motive oft im Vollrausch malte. Man schaut sich das Deckengemälde an und fragt sich, wo solche Typen wie er nur unter den 20 Millionen Einwohnern geblieben sind.

Überhaupt: Wo sind sie alle geblieben, die Hindus und Sikhs und Christen und Parsen, deren Tempel und Kirchen Teil des Programms sind? Karatschi, das wird deutlich, war mal ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen, immer zwar dominiert von den Muslimen, aber doch offen und tolerant, bunt und vielfältig.

"Ist es immer noch", sagt Salim. "Hier in Saddar leben immer noch viele Menschen mit unterschiedlichem Glauben." Das stimmt, aber dass sie ihre Identität oft verstecken müssen, sagt er nicht. Die meisten Gotteshäuser kann man von innen besichtigen, nicht alle sind mehr in Betrieb.

Drei Dinge braucht der Mensch zum Leben

Zwischen nichtssagenden bis geradezu hässlichen Fassaden fallen die Perlen aus der Zeit der Briten auf, wie die St.-Patrick`s-Kathedrale, 1881 fertiggestellt. Der Beichtstuhl ist hier offen, "um irgendwelchen Missbrauchsvorwürfen vorzubeugen", sagt Salim. Das Problem der katholischen Kirche reicht also bis hierher. Neben der Kathedrale befindet sich das Grab des 1994 gestorbenen Kardinals Joseph Cordeiro, Erzbischof von Karatschi. Die Christen hier glauben, er hätte das Zeug zum Papst gehabt.

Oder der Empress Market, ein Basar benannt nach Queen Victoria, Kaiserin (Empress) von Indien. Hier kaufen Frauen und Männer Gemüse ein, schlachten Männer in Rikschas angelieferte Hühner, bieten zwielichtige Händler Haustiere - Katzen, Hunde, Vögel - feil. "Wenn man sein Haustier vermisst, sollte man als Erstes nachschauen, ob es nicht jemand an diesem Ort anbietet", sagt Salim.

Der Uhrenturm des Marktes ist wie die meisten Gebäude aus der Kolonialzeit denkmalgeschützt, was ihn aber nicht vor dem Verfall bewahrt. Auf dem Platz davor wurden 1857, nach dem niedergeschlagenen Versuch der Einheimischen Britisch-Indiens, sich von der Kolonialherrschaft zu befreien, die Aufständischen hingerichtet. "Sie wurden vor Kanonenrohre gebunden", erzählt Salim.

Manche dieser Geschichten von Karatschi findet man in den Büchern, die es im "Tit Bit Book Stall" gibt, einem der ältesten Buchläden der Stadt. Ein Stopp gebührt diesem Kabuff, kleiner als eine Garage, die Wände bis zur Decke vollgestopft mit - zum Teil alten - Büchern. "Ich liebe Bücher", sagt der Händler. Das Geschäft laufe prima, "trotz Internet und Computer". Wenn er etwas in seinem Leben in Karatschi gelernt habe, dann das: "Es gibt nur drei Dinge, die der Mensch zum Leben braucht: Essen, Trinken und Bücher. Sonst nichts."

Es wäre so schön, wenn alle Einwohner von Karatschi das so sähen.

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