Wenn es um Grundsatzfragen geht, ist es nicht immer leicht, sich für eine Seite zu entscheiden. Oft haben beide Seiten plausible Argumente. Das gilt auch für die Neuauflage des Obergrenzenstreits, der die Union gerade zu spalten droht. Die CSU nimmt für sich in Anspruch, eine Stimmung in der Bevölkerung aufzugreifen. Bundeskanzlerin Angela Merkel behauptet von sich, sie denke an die Einheit Europas. Beides sind wichtige, legitime Impulse. Die Frage kann daher nicht lauten: Wer hat recht? Sondern: Wer hat die besseren Argumente?
Merkel hat im Streit um ihre Flüchtlingspolitik viel falsch gemacht. Dennoch ist ihre Position zu den von der CSU geforderten Zurückweisungen die richtigere.
Die Gegenposition: Warum Seehofer recht hat.
Zunächst zu Merkels Fehlern: Sie hat 2015, als die Bundesregierung die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen ließ, zu wenig betont, dass dies eine Sondersituation war. Als die CSU einen Gegensatz konstruierte zwischen der angeblich illegalen "Grenzöffnung" und dem Bewahren des Rechtsstaats in Deutschland, hat sie nicht gut und nicht deutlich genug dagegen argumentiert. Damit hat sie erheblich zu dem falschen Eindruck beigetragen, seit 2015 habe sich in der Migrationspolitik nichts verändert. Stattdessen tat die Kanzlerin so, als halte sie an dem "freundlichen Gesicht" fest, auf das sie im September 2015 so stolz war. Man darf das heuchlerisch nennen. Nach Recherchen österreichischer Journalisten spielten Merkel und die deutsche Bundesregierung Anfang 2016, als der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz über die Schließung der Balkanroute verhandelte, ein doppeltes Spiel. "Sie wollten uns nicht stoppen", erinnert sich ein österreichischer Diplomat. "Sie wollten nur nicht selbst als diejenigen gelten, die schließen."
Zudem haben Merkel und die Bundesregierung stets viel davon gesprochen, wie wichtig die Integration der Flüchtlinge sei. "Wir haben aus der Zeit der Gastarbeiter Anfang der 60er-Jahre gelernt", sagte die Kanzlerin. Doch der Vergleich hinkt. Sinnvoller ist die Analogie zu den Kriegsflüchtlingen aus dem zerfallenen Jugoslawien in den 90er-Jahren. Von dort flohen damals 350.000 Menschen nach Deutschland. Nach dem Ende der Balkan-Kriege kehrten die weitaus meisten von ihnen wieder zurück. Umfragen zeigen, dass auch die Mehrzahl der syrischen Flüchtlinge gern in ihre Heimat zurückgehen würde. Das spricht nicht dagegen, ihnen Deutsch beizubringen und sie in Jobs zu vermitteln. Doch der Akzeptanz von Flüchtlingen würde es vermutlich helfen, wenn sie nicht als ganz normale Einwanderer dargestellt würden. All dies sind kommunikative Fehler, die typisch für Merkel sind. Sie ist einfach nicht gut darin, ihre Politik zu erklären.
Wer Regeln falsch findet, sollte sie nicht leugnen, sondern ändern
Und dennoch: Merkel hat im Streit über die Zurückweisungen die besseren Argumente. Da ist zunächst die juristische Ebene. Die CSU stellt es so dar, als sei die Rechtslage eindeutig. So ist es keineswegs. Die sogenannte Dublin-Verordnung regelt, dass der EU-Staat für einen Asylbewerber zuständig ist, in dem dieser die Europäische Union zuerst betreten hat. Von dieser Regel gibt es allerdings zahlreiche Ausnahmen. Wenn ein Antragsteller etwa einen Familienangehörigen hat, der als anerkannter Flüchtling in einem anderen EU-Staat lebt, dann hat er das Recht, seinen Antrag dort prüfen zu lassen. Der Europäische Gerichtshof hat erst kürzlich entschieden, dass ein Flüchtling nicht einfach so in das Land zurückgeschickt werden darf, in dem er einen Asylantrag gestellt hat - dieses Land muss erst zustimmen. Wer, wie die CSU, diese Regelungen falsch findet, sollte sie nicht leugnen, sondern für eine Reform derselben sorgen. Und was macht die CSU? Statt Merkel in ihren Bemühungen zu unterstützen, verkünden Bundesinnenminister Horst Seehofer und vor allem Ministerpräsident Markus Söder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dass eine solche Reform ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hat.
Die zweite Ebene ist die politische Strategie der Akteure. Nach verbreiteter Auffassung denkt die CSU bei allem, was sie tut, an die Landtagswahlen in Bayern. Richtig daran ist, dass die Verteidigung der absoluten Mehrheit im Freistaat für die CSU wichtiger ist als alles andere. Ohne eine starke Basis in Bayern wäre ihr Einfluss in Berlin deutlich kleiner. Aber ist das Vorgehen von Seehofer, Dobrindt und Söder wirklich im Interesse der CSU? Man darf das bezweifeln. Der Streit um die Obergrenze hat den Einbruch der Union bei der Bundestagswahl auch in Bayern nicht verhindert - er hat ihn befördert. Es könnte sein, dass dies für die anstehende Landtagswahl nicht zutrifft, da eine Stimme für die CSU im kommenden Oktober nicht automatisch eine für Merkel ist. Doch auf der Basis dieser vagen Vermutung riskieren die Christsozialen derzeit nicht nur die Koalition, sondern auch die gemeinsame Fraktion im Bundestag - und damit ihr Alleinstellungsmerkmal. Denn eine Folge des Bruchs der Fraktionsgemeinschaft wäre zweifellos eine Ausweitung der CDU auf Bayern. Dies wiederum würde dafür sorgen, dass die CSU ihre absolute Mehrheit endgültig verliert.
Die Mehrheit der Bürger ist für eine europäische Lösung
Die CSU geht davon aus, dass ihre Position von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Es gibt jedoch Hinweise, dass ihr der Streit mit der Schwesterpartei selbst schadet. Dem aktuellen RTL/n-tv Deutschlandtrend zufolge etwa ist die CSU in Bayern regelrecht eingebrochen. Sie kommt dort nur noch auf 36 Prozent. Eine weitere Forsa-Umfrage ergibt, dass eine deutliche Mehrheit der Befragten zwar dafür ist, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, wenn diese bereits in einem anderen Land registriert wurden. Aber 66 Prozent sprechen sich für eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage aus.
"Nahezu jeden Tag erreichen die Bürger Nachrichten, die sie in ihrer Einschätzung bestätigen, dass wir die Lage nicht im Griff haben und teilweise eklatante Systemfehler bestehen", sagt Dobrindt. Doch ein guter Teil dieser Nachrichten wird von ihm und seiner Partei selbst produziert. "Die Denke des Populismus … schafft Probleme, statt sie zu lösen", analysiert der "Tagesspiegel" treffend. Das geht so weit, dass die CSU sich einen Spin der AfD zu eigen gemacht hat: Merkel habe 2015 "mit einer einseitigen, nationalen Entscheidung, seine Grenzen aufzumachen, die europäischen Partner damals allein gelassen", erklärte Söder am Montag im ZDF. Damit habe die CDU den Kontinent gespalten, sagte Seehofer. Man kann zu Merkels Entscheidung von 2015 stehen, wie man will. Sie wurde ohne Seehofer gefällt, der damals telefonisch nicht erreichbar war. Aber ein nationaler Alleingang war es nicht: Merkel handelte nicht nur in Absprache mit der SPD, sondern auch mit der ungarischen und der österreichischen Regierung.
Schließlich ist da noch die dritte Ebene, die der praktischen Politik. Zwischen Merkel und Seehofer ist Konsens, dass eine sinnvolle Flüchtlingspolitik in den Herkunftsländern ansetzen muss. Deshalb wollte Seehofer seinen 63-Punkte-Plan, bevor er die Pressekonferenz absagte, ursprünglich gemeinsam mit seinem Parteifreund Entwicklungsminister Gerd Müller vorstellen. Auch in der CSU ist bekannt, wie gefährlich nationale Alleingänge in der EU sind und dass eine Schließung der Grenze das Problem lediglich verschieben würde - nach Österreich, von dort nach Italien oder via Balkan nach Griechenland. Eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage sei "die einzige Methode, um den Schengen-Raum und die europäische Idee am Leben zu erhalten", weiß Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament und CSU-Vizechef. Ein Ende von Schengen, also des freien Personen- und Warenverkehrs, wäre sicher nicht im Interesse der Exportnation Deutschland.
Und nicht nur das. Im Moment werden in Bayern lediglich drei von neunzig Grenzübergängen durchgängig kontrolliert, die drei Autobahn-Übergänge. Auch unter praktischen Gesichtspunkten erscheint eine europäische Lösung sinnvoller. Das heißt nicht, dass nicht auch für Merkel der Punkt kommen kann, an dem einseitige Maßnahmen die letzte Option bleiben. Noch einmal Weber: "Wenn eine Europa-Lösung kurzfristig nicht möglich ist, dann ist auch, als Ultima Ratio, als letzte Möglichkeit, ein nationaler Weg richtig und auch machbar."
Hier könnte der Kompromiss liegen. Doch die CSU hat längst deutlich gemacht, dass sie daran kaum ein Interesse hat. Wie beiläufig hat Söder bereits das Ende des Multilateralismus verkündet - des Konzeptes in der Außen- und Europapolitik, das seit Jahrzehnten zum Selbstverständnis der Union und der Bundesrepublik gehört. Mit Vokabeln wie "Asyltourismus" und "Asylindustrie" greifen Dobrindt und Söder nicht nur eine vorhandene Stimmung auf, sie heizen sie massiv an. Sie wecken Erwartungen, die sie nur erfüllen können, wenn die CSU die Koalition und damit die Fraktionsgemeinschaft verlässt. Das würde nicht nur die Unionsparteien schwächen, sondern hätte Auswirkungen auf die Statik der politischen Stabilität in Deutschland. Ein Blick nach links hilft: Oskar Lafontaine und die SPD sind bis heute keine Freunde geworden. In einer Zeit, in der politische Kompromisse als "Verrat" verleumdet werden, wäre es zudem ein völlig falsches Signal. Es wäre der Sieg der Torheit über die Vernunft.
"Die Flüchtlingskrise wirkt wie eine Erosion auf die CDU", diagnostizierte Dobrindt vor zwei Jahren. Das stimmt wohl. Nur sind zwei Punkte zu ergänzen. Diese Erosion geht zu einem erheblichen Teil auf das Konto der CSU. Und viel spricht dafür, dass sie sich damit selbst ebenfalls schadet - ganz zu schweigen vom Schaden für Europa und für Deutschland. Merkel sieht das und will es verhindern. Zu Recht.
Quelle: n-tv.de
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