Hatte er das gerade wirklich getan? Hatte Uruguays Luis Suárez den Italiener Giorgio Chiellini tatsächlich in die Schulter gebissen? Die TV-Zuschauer am 24. Juni 2014 trauten ihren Augen nicht. Beim Stand von 0:0 im dritten und alles entscheidenden Gruppenspiel zwischen Uruguay und Italien bei der WM 2014 nutzte Suarez einen Moment der Abwesenheit des Balls, um seinem Gegenspieler mit einem gezielt angesetzten Biss eine blutende Fleischwunde in der Schulter zuzufügen. Eine unglaubliche Szene. Doch was danach kam, sorgte fast noch für mehr Erstaunen.
Denn nachdem er Giorgio Chiellini in die Schulter gebissen hatte, ließ sich der Nationalspieler Uruguays theatralisch auf den Boden fallen und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seine imposanten Beißerchen. Eine schauspielerische Einlage auf Broadway-Niveau. Äußerst bewundernswert, dieses spezielle Talent. Schließlich hatte Suárez nach seinem gewalttätigen Ausfall blitzschnell im Kopf umschalten müssen, damit er die Situation durch pro-aktives Dramaspiel zu seinen Gunsten lenken konnte. Zu diesem Rollenspiel passten auch seine Aussagen nach der Attacke am italienischen Verteidiger: "Im Moment des Aufpralls habe ich die Kontrolle verloren, wurde instabil und bin auf meinen Gegner gefallen. Als mein Gesicht den Spieler traf, bekam ich eine kleine Prellung an der Wange und spürte starken Schmerz an meinen Zähnen."
Manch aufmerksamem Fernsehzuschauer stellte sich nach dieser Aktion die Frage: Wird Luis Suárez nach Vinnie Jones und Eric Cantona vielleicht der dritte Hollywood-Schauspieler aus der Reihe der legendären Fußball-Stars? Wie man gerade in Brasilien hatte sehen können: Der Uruguayer brächte die allerbesten Voraussetzungen mit. Ohne falsche Zähne könnte Suarez problemlos in die Fußstapfen des furchteinflößenden Mimen Richard Kiel treten, der in den beiden James Bond Filmen "Der Spion, der mich liebte" und "Moonraker" so legendär die Rolle des "Beißers" spielte. Die niederländische Tageszeitung "De Telegraaf" sah Suárez nach seiner Biss-Attacke bei der WM 2014 in der Tat schon als Hauptdarsteller in einer Neuverfilmung von "Der Weiße Hai".
Wie ein hungriger Vampir
Keine Anerkennung für sein großartiges Talent durfte Suárez allerdings von seinem Gegenspieler Giorgio Chiellini erwarten: "Er hat mich gebissen. Ich habe immer noch den Abdruck des Bisses. Der Schiedsrichter hätte pfeifen und ihm die Rote Karte zeigen müssen, zumal er auch noch simuliert hat."
Seine Rolle beherrschte Suárez in diesem Fall perfekt, denn es war bereits das dritte Mal, dass der Uruguayer sie vor größerem Publikum aufführte. Beim ersten Mal spielte Suárez noch für Ajax Amsterdam. In der Partie gegen die PSV Eindhoven biss er sich wie ein hungriger Vampir auf Nahrungssuche in die Schulter von Otman Bakkal. Bei diesem Versuch gelang noch nicht alles perfekt und der Ajax-Profi kassierte unter Buh-Rufen eine Sperre von sieben Begegnungen. Deutlich ausgereifter präsentierte sich Suárez in seiner Performance als Liverpool-Spieler gegen Branislav Ivanović vom FC Chelsea. Doch auch hier versagte ihm die Jury die entsprechende Anerkennung. Man schmähte ihn mit einer Sperre von zehn Partien.
Flaschenöffner-Firma würdigt Beißreflex
Und selbst der deutsche Zahnarzt und Ex-Schiri Markus Merk hatte nach der WM 2014 keinen Sinn für das herausragende Talent des "Beißers". Ganz im Gegenteil. Er empfahl ihm sogar eine Korrektur seines Gebisses: "Herr Suárez bekommt dann von mir auch eine kostenlose Behandlung, das hake ich als soziale Dienstleistung ab." Auch Brasilien-Idol Ronaldo urteilte Luis Suárez als einfachen Bösewicht ab, der mit seinem Verhalten die Norm verletze: "Ich habe nie jemanden gebissen. Ich weiß, dass Beißen weh tut, meine kleinen Kinder haben mich auch schon gebissen - und ich habe sie dafür bestraft. Bei mir zu Hause bedeutet das: Ab in den dunklen, schwarzen Raum mit dem großen, bösen Wolf!" Einzig eine Firma für Flaschenöffner erkannte das enorme Potential des "Beißers" und nahm die Hauer von Suárez als Vorlage für praktische Kronkorken-Öffner.
Übrigens: Vier Jahre zuvor hatte der Uruguayer sein Publikum bereits mit einer anderen Schauspieleinlage verwöhnt. Im WM-Viertelfinale 2010 gegen Ghana wehrte Suarez in der letzten Minute der Nachspielzeit einen Schuss auf der Linie mit der Hand ab. Ghana verschoss damals den Strafstoß und schied aus. Suárez meinte hinterher stolz: "Das war die beste Parade des Turniers." Und ordnete seine Leistung recht souverän selbst ein: "Am Ende ist die Hand Gottes jetzt meine."
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Quelle: n-tv.de
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