Kennen Sie diesen Spruch vom "Spiel für Taktikfreunde"? Das sagen Fußballreporter dann, wenn auf dem Rasen nichts passiert. Dahinter steckt die Denke: Verteidigen ist langweilig, niemand will Mannschaften sehen, die defensiv spielen. Frankreich zeigt bei dieser WM, dass wir womöglich umdenken sollten. J'avoue, ich gestehe: Wie die Franzosen verteidigen, bereitet mir großes Vergnügen. Das ist wunderbarer, ästhetischer Fußball.
Zugegeben, am Anfang herrschte Frust. Dass Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps gleich mehrere Top-Stürmer nicht für die WM nominierte - geschenkt. Da waren noch genug andere Angreifer der Extraklasse im Kader der Équipe. Blieb nur die Frage, wie Deschamps möglichst viele von ihnen in der Startelf unterbringt, ohne die Defensive zu sehr zu vernachlässigen.
Deschamps aber dachte gar nicht ans Stürmen, im Gegenteil: Nach dem ersten WM-Spiel, einem 2:1 gegen Australien, verstärkte er allen Ernstes die Abwehr. Nur drei wirklich offensiv ausgerichtete Spieler setzte er noch ein und das zieht er nun durch. Kein Ousmane Dembélé oder Nabil Fekir, sondern Blaise Matuidi. Als Zuschauer verfiel man in einen Zustand zwischen Wehmut und Wut.
Die Schönheit der Bewegungen
Frankreich im Halbfinale gegen Belgien im Stadion zu erleben, glich dann einem Erweckungserlebnis. Man muss die französische Verteidigung fortan so intonieren wie die spanische Eröffnung im Schach. Sie hat sich ihren Eigennamen verdient.
Die Schönheit bestand darin, wie sich die Spieler untereinander bewegten und sich abstimmten, um Belgiens Offensive, immerhin die bis dahin beste bei dieser WM, aufzuhalten. Als Rechtsverteidiger Benjamin Pavard einmal aufrückte und ausgespielt wurde, sprintete N'Golo Kanté aus dem Mittelfeldzentrum nach rechts hinten. Dessen vakante Position vor der Abwehr nahm dann Stürmer Antoine Griezmann ein. Für einige Momente wurde aus einem der filigransten Angreifer der Welt ein defensiver Mittelfeldspieler.
Frankreichs Formation wechselt bei dieser WM sozusagen ihren Aggregatzustand, erst ist sie fest, dann wird sie amorph. Entsteht irgendwo ein Leck, wird es gestopft. Pure Harmonie. Die Stürmer sind eigentlich Abwehrspieler, das hat etwas vom Aufgehen in einem größeren Ganzen. Einer für alle, alle für einen, der Satz stammt bekanntlich aus "Die drei Musketiere", geschrieben von Alexandre Dumas: einem Franzosen.
Vor allem ist das kein plumpes Verteidigen, kein Festival der Grätschen, da sind keine brutalen Fouls, kein Rennen bis zum Wadenkrampf. Die Franzosen verteidigen mit Köpfchen. (Lesen Sie hier, wie intelligent etwa Kanté seine Zweikämpfe bestreitet.)
Aber geht es im Fußball nicht zuallererst ums Toreschießen und erst dann ums Toreverhindern? Völlig richtig. Ein eroberter Ball nützt wenig, wenn er anschließend direkt wieder verloren geht.
spiegel
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