Die liberale internationale Ordnung, von der Deutschland viele Jahrzehnte enorm profitiert hat, ist ins Wanken geraten. Ihre Werte und Regeln gelten vielen nicht mehr als selbstverständlich. Aber nicht nur autoritäre Großmächte wie Russland und China stellen internationales Recht infrage. Seit der Wahl Donald Trumps entfällt auch der bisherige Hüter liberaler Ordnungsprinzipien. Die Europäische Union kämpft derweil mit einer Vielzahl innerer Herausforderungen, vom Brexit über die Flüchtlingskrise bis hin zum neuen Populismus.
Wie soll Deutschland diesen Herausforderungen begegnen? Wie muss es seine Außen- und Sicherheitspolitik ändern, will es die Ordnung erhalten, die Deutschlands Erfolgsgrundlage ist? Es gibt aktuell wohl kaum eine wichtigere Frage für die deutsche Politik. Und kaum einer hat sich ihr so klar gewidmet wie Christoph von Marschall. Fast ein ganzes Jahr lang ist der Journalist durch die Welt gereist und hat die sich wandelnden Erwartungen an die deutsche Außenpolitik mit hochrangigen Entscheidungsträgern diskutiert - in Deutschland, aber auch bei der EU, der Nato und mit dreien der wichtigsten deutschen Partner, den USA, Frankreich und Polen.
Herausgekommen ist ein kluges Buch, das offenlegt, warum sich die außen- und sicherheitspolitische Debatte - und damit die Reaktion auf die weltpolitischen Umbrüche - bei uns in Deutschland so schwierig gestaltet. Das Hauptproblem, so von Marschalls Analyse, ist eine eklatante Diskrepanz: Die Deutschen halten sich nämlich außenpolitisch meist für "pro-europäisch, rational, und rechtstreu" - die politische Realität spricht aber eine andere Sprache: Statt europäisches Recht zu achten, verstößt auch Deutschland immer wieder gegen gemeinsame Regeln. Statt mustereuropäisch agieren die Deutschen bisweilen selbstbezogen, "beschwören europäische Lösungen, handeln aber oft, ohne sich mit den Partnern abzustimmen". Und statt besonders nüchtern und vernunftorientiert zu sein, durchzieht außenpolitische Debatten in Deutschland eine "Neigung zum Moralisieren und zur Hysterie".
Vor allem dem "Übermaß an Moralin" attestiert von Marschall eine problematische Wirkung: Es verhindert, was Deutschland im Angesicht globaler Umbrüche dringend braucht - nämlich eine rational geführte strategische Debatte. Mit anderen Worten: nüchterne Analysen und strategische Argumente mit Blick auf Deutschlands Handlungsoptionen.
Und auch den Rückzug in eine deutsche Sonderrolle lässt von Marschall nicht mehr gelten. Wenn wir unseren Partnern besser zuhören würden, so sein Urteil, hätten wir längst gemerkt, dass Amerikaner, Franzosen und Polen weniger einen deutschen Rückfall in seine dunkelste Geschichte befürchten als das exakte Gegenteil. In seinen Gesprächen vernahm von Marschall eher den Vorwurf, "Deutschland benutze seine Geschichte zu oft als Ausflucht, um nicht handeln zu müssen". Will heißen: Statt Zurückhaltung wünschen sich unsere Partner ein Deutschland, das seiner internationalen Verantwortung stärker gerecht wird. Gerade weil er in dieser Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ein Kernproblem deutscher Außenpolitik identifiziert, beschäftigt sich von Marschall eingehend mit der Perspektive unserer Partner - und konfrontiert den Leser so mit der Außenansicht auf Deutschland.
Von Marschalls Buch kommt im richtigen Moment. Ein gutes Buch in turbulenten Zeiten!
Wolfgang Ischinger ist Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Zuvor war er Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Washington und London. Von ihm ist am 7. September "Welt in Gefahr: Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten" erschienen.
Quelle: n-tv.de
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