Wirtschaft vor Menschenrechten: Deutschland will Türkei helfen

  13 September 2018    Gelesen: 768
Wirtschaft vor Menschenrechten: Deutschland will Türkei helfen

Die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei hindern deutsche Unternehmer nicht daran, mit der türkischen Seite zu kooperieren. Sie buhlen um gigantische Infrastrukturprojekte wie die Modernisierung der türkischen Eisenbahn. Damit setzt sich das Magazin „Expert Online“ am Donnerstag auseinander.

Auf den ersten Blick durchleben die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara nicht ihre besten Zeiten. Im Ganzen stimmt das. Berlin will nicht vom gesamteuropäischen Türkei-Kurs abweichen. Doch das hindert hochrangige deutsche Politiker nicht daran, überraschend Hilfen für die türkische Wirtschaft zu erwägen, die seit Wochen in einer ernstzunehmenden Krise steckt.

Wie das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtet, könnte Deutschland den Bau von Bahnstrecken in der Türkei finanziell unterstützen. Es hat auf diesem Gebiet bereits Erfahrung: Vor 140 Jahren beteiligten sich deutschen Firmen aktiv an einem ähnlichen Projekt des türkischen Sultans Abdul Hamid II.

Das türkische Schienennetz braucht eine umfassende Modernisierung. Seit der Machtübernahme durch Recep Tayyip Erdogan 2003 hat sich die Zahl der Flughäfen mehr als verdoppelt, während die Eisenbahn seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht modernisiert wurde. Deshalb sind Autos, Busse und Flugzeuge die verbreitetsten Verkehrsmittel in der Türkei.

Deutsche Hilfe für türkische Eisenbahn

Die Länge des Bahnnetzes beträgt nur 11.000 Kilometer. Weniger als 40 Prozent davon sind mit modernen Signalanlagen und Technologien ausgestattet, nur 30 Prozent sind elektrifiziert. Laut einer Studie des Verbandes der türkischen Kammern der Ingenieure und Architekten aus dem Jahr 2016 funktioniert ein Fünftel des türkischen Bahnverkehrsnetzes überhaupt nicht: Der Grund: Es mangelt dem staatlichen Eisenbahnunternehmen an Personal.

Vor etwa drei Monaten wandten sich Erdogans Berater an die deutsche Regierung und schlugen vor, die Beteiligung von deutschen Großkonzernen  wie Siemens und Deutsche Bahn an der Modernisierung des Schienennetzes zu erörtern. Die Gesamtkosten des Projekts liegen bei rund 35 Milliarden Euro.

Die Verträge wären wohl schon unterzeichnet gewesen, hätte es nicht die Forderung gegeben, dass Deutschland das Projekt mitfinanziert. Der endgültige Beschluss sei zwar noch nicht getroffen worden. Doch Kanzlerin Angela Merkel neige wohl dazu, das Angebot anzunehmen, berichtet „Der Spiegel“ unter Berufung auf eigene Quellen in der Bundesregierung. Derzeit werde die Frage erörtert, wie das Projekt finanziert werden soll – mit staatlichen Hermes-Bürgschaften oder mit einem Kredit der staatlichen KfW-Bankengruppe.

Deutsche Sorgen wegen türkischer Probleme

Berlins Haltung ist verständlich. Die Abwertung der türkischen Lira beunruhigt mehr als die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei – Millionen Türken würden im Falle einer sich verschärfenden Krise zu ihren Verwandten in Deutschland strömen. Zudem will Merkel zusammen mit Außenminister Heiko Maas Erdogan nicht endgültig vom Westen abstoßen.

Der türkische Präsident hat derzeit fast genauso viel Macht wie einst Sultan Abdul Hamid II. Ende des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus würde die Beteiligung der deutschen Unternehmen an solch einem Megaprojekt Chinas rasanten Drang in den Westen bremsen.

In der vergangenen Woche reiste Außenminister Maas in die Türkei. Auf der Pressekonferenz unterstützte er seinen Kollegen Mevlüt Cavusoglu, der den Wunsch Ankaras äußerte, die Kooperation mit Deutschland zu vertiefen. Im September kommt Präsident Erdogan zu einem offiziellen Besuch nach Berlin. Er will sich nicht nur mit Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, sondern auch mit deutschen Unternehmern treffen.

Nach „Spiegel“-Informationen beschloss Berlin bereits, zumindest die Wirtschaftsbeziehungen mit der Türkei zu erweitern. Das könnte gefördert werden, indem sich deutsche Unternehmen an dem Eisenbahnprojekt beteiligen.

Am wichtigsten ist nun, diese Annäherung mit minimalen Verlusten zu vollziehen. Denn die Menschenrechtssituation in der Türkei hat sich seit einem Jahr nicht gebessert. Dazu wird die unerwartete und schnelle Annäherung an die Türkei in der deutschen Gesellschaft wohl für Empörung sorgen, die der Regierungskoalition Tausende Wählerstimmen kosten wird. Angesichts der beispiellosen Schwächung der Koalition und dem Erstarken der Populisten kann Kanzlerin Angela Merkel dies nicht zulassen.

sputniknews


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