Wer immer schon mal nach Russland wollte, mit Väterchen Frost aber partout nichts anfangen kann, hat Glück: Er muss einfach nur nach Lahr fahren - eine halbe Zugstunde von Freiburg, dem Kalifornien Deutschlands, entfernt. Schon auf dem Weg vom Bahnhof in die Innenstadt versteht man, warum Lahr bisweilen auch "Klein-Moskau" genannt wird: Im "Mini-Markt" am Straßenrand warten eine Cervelatwurst namens "Banketnaja", der Senf "Stolitschnaja" und eingelegte Gurken der Marke "Tjoschtscha" auf Käufer, gleich nebenan bietet das "Pfannkuchenhaus" seinen Gästen Spezialitäten wie Plov, Lagman, Pelmeni und Borschtsch an. Ein Stück weiter sorgen die Fahrschule "Viktor" für sichere Straßen und der Gardinensalon "Oxana" für vorzeigbare Wohnungen. Alles in allem eine ziemlich authentische Erfahrung, und noch dazu eine Erfahrung ganz ohne Sprachbarriere.
Das war nicht immer so: Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rund 10.000 Spätaussiedler in die Stadt strömten, sprachen die wenigsten von ihnen die Landessprache, deutsche Nachnamen hin oder her. Für das idyllisch gelegene Lahr war das in den ersten Jahren ein Riesenproblem, schließlich machten die Russlanddeutschen bald ein Viertel der Einwohner der Schwarzwaldstadt aus - zumal es neben der Sprachbarriere auch noch eine kulturelle gab, die zwischenzeitlich unüberwindbar wirkte. Stichwort Parallelgesellschaft. Die Lösung für das interkulturelle Knirschen im Getriebe kam 1997 in Form von Wolfgang Müller.
"Lahr ist quasi auf einen Schlag um 10.000 Menschen gewachsen. Das hat die Stadt geschüttelt, aber trotzdem hat sie's geschafft", sagt Müller und unterschlägt seinen eigenen Beitrag dabei mit einer gesunden Portion Understatement. Fakt ist allerdings, dass der damals frisch zum Oberbürgermeister gewählte Müller, der auch 21 Jahre später noch die Geschicke Lahrs lenkt, mit einem durchdachten Maßnahmenkatalog und viel Geld dafür sorgte, dass Lahr ist, was es heute ist: deutscher Integrationsmeister. Auch, wenn es dafür keinen offiziellen Titel gibt.
"Jahrhunderte an Migrationserfahrung"
Dagegen hat Müller selbst durchaus einen offiziellen Titel: 2016 wurde der SPD-Politiker von der US-amerikanischen "City Mayors Foundation" wegen seiner Integrationsbemühungen zum Vizeweltbürgermeister gekürt - eine Auszeichnung, die sonst eher an Weltstädte wie Melbourne, Mexiko City oder Kapstadt geht. Deren Herausforderungen sind eigentlich kaum mit Lahr zu vergleichen - mit einer Ausnahme: Menschen aus über 100 Nationen wohnen in der Stadt, die heute rund 45.000 Einwohner zählt. Das ist Metropolniveau, allerdings auf viel engerem Raum - und trotzdem gibt es keine größeren Probleme zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
"Die Migrationserfahrung der Lahrer ist jahrhundertealt", versucht sich Müller an einer Erklärung. Schon die Hugenotten kamen bei ihrer Flucht aus Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert hier durch, "nach dem 2. Weltkrieg dann die Flüchtlinge aus den Ostgebieten, dann die Kanadier, noch später Vietnamesen und Chilenen, und schließlich eben die Spätaussiedler". Moment: Kanadier?
Rund 10.000 von ihnen waren ab 1969 in Lahr stationiert und wirbelten den Alltag der Einheimischen gehörig auf: Anders als ihre französischen Vorgänger, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem örtlichen Flugplatz eine Garnison eingerichtet hatten, mischten sich die Kanadier unters Volk. Die meisten von ihnen mieteten sich in Lahrer Wohnungen ein oder zogen in ein neu errichtetes Viertel auf halbem Weg vom Bahnhof in die Innenstadt, den Kanadaring. Mit den Kanadiern kam der American Way Of Life: Große Autos, Fast Food, Eishockey, Lockerheit und viel Geld für damalige bundesdeutsche Verhältnisse.
"Die meisten Deutschrussen wählen AfD"
Auch im Stadtmuseum ist Diversität deshalb ein Thema: "Die Lahrer hatten viel Zeit, sich an fremde Kulturen zu gewöhnen", schließt ein Mitarbeiter des Stadtmuseums seine Führung. In dem unweit des Rathauses in einer alten Tonofenfabrik gelegenen Museum ist den Kanadiern ein eigener Raum gewidmet, stilecht mit jeder Menge nordamerikanischer Folklore dekoriert. Dass die Spätaussiedler (noch) nicht in der Dauerausstellung vorkommen, stört zumindest den Mitarbeiter nicht, der den Russlanddeutschen weniger Verständnis entgegenbringt als Oberbürgermeister Müller: "Die meisten Deutschrussen wählen AfD, das sagt ja schon alles." Und tatsächlich: 18,7 Prozent der Lahrer stimmten bei der Bundestagswahl für die AfD, 12,2 waren es im baden-württembergischen Schnitt.
Die AfD-Affinität der Spätaussiedler wirkt zunächst paradox, schließlich waren die Russlanddeutschen bei ihrer Ankunft in Lahr selbst Migranten - Wirtschaftsflüchtlinge, wenn man so will. Dass die Nähe zur Partei auf eine leicht verdrehte Art trotzdem sehr logisch ist, wird im persönlichen Gespräch klar: "Helmut Kohl war unser großes Vorbild", sagt Anna, die 1995 mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland kam. Ein paar Jahre zuvor hatte der Einheitskanzler dafür gesorgt, dass die Spätaussiedler im Zuge der Perestroika in die Bundesrepublik "heimkehren" konnten, wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß - drei Millionen Russlanddeutsche folgten der Einladung und wählten in den Folgejahren schon aus reiner Dankbarkeit CDU.
Auch politisch passte die Verbindung, weil ein Gros der Russlanddeutschen sehr traditionelle Werte pflegte und pflegt. Aber mit den Jahren bröckelte die Liebe, und spätestens seit der Flüchtlingskrise hat die Union in den Augen der Spätaussiedler ihr konservatives Profil endgültig verloren. "Wir können doch nicht immer mehr und noch mehr Menschen nach Deutschland holen, bis wir irgendwann fremd im eigenen Land sind", klagt Anna. Dabei hat Lahr seit 2015 nur 1400 neue Flüchtlinge aufnehmen müssen - aus Rücksicht auf die Kraftanstrengungen, die die Stadt bei der Integration der 10.000 Russlanddeutschen in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu stemmen hatte.
Ist das Lahrer Modell übertragbar?
"Die vorletzte Gruppe hat immer die Sorge, dass die Nachfolgenden es einfacher haben", erklärt Oberbürgermeister Müller die Angst der Russlanddeutschen vor der Überfremdung. Die Argumente, dass der Staat zu viel für die Flüchtlinge tue und darüber die Interessen der Alteingesessenen aus den Augen verliere, seien dieselben wie vor 20 Jahren: "Damals warfen einige Menschen der Stadt vor, zu viel für die Spätaussiedler zu tun." Der SPD-Politiker ist trotzdem überzeugt, dass Lahr auf einem guten Weg ist, und die Geschichte gibt ihm Recht: "Ohne die Spätaussiedler stünden wir wirtschaftlich lange nicht so gut da." Außerdem hätten "die Russlanddeutschen zwischenzeitlich genug Wurzeln geschlagen, damit es sich hier aushalten lässt, für alle Beteiligten."
Ob die Lahrer dasselbe in 20 Jahren über die neu Dazugekommenen sagen werden, muss die Zeit zeigen. Dass der Weg, den der Oberbürgermeister eingeschlagen hat, nicht ganz falsch sein kann, zeigt aber allein schon das Ergebnis, mit dem Müller 2013 wiedergewählt wurde: 99 Prozent, darüber können sich sonst nur Diktatoren freuen. Trotzdem muss der Oberbürgermeister im kommenden Jahr sein Amt niederlegen: Müller wird 68, der Zwangsruhestand ruft, obwohl die Arbeit nach eigenem Gefühl noch nicht getan ist.
Wie ernst es Müller mit der Integration ist, wird wenige Tage nach dem Interview im Lahrer Rathaus klar: Auf die Frage, ob und wie die "Lahrer Rezeptur" auf andere Kommunen in Deutschland umgemünzt werden könnte, erbittet sich Müller ein paar Tage Zeit, um seine Gedanken zum Thema zu sortieren. Tatsächlich trifft wenig später eine Mail ein, auf mehreren Seiten formuliert der SPD-Politiker seine Vorstellung von Freiheit und ihren Grenzen, einem funktionierenden Nebeneinander und einer Akzeptanz, die er "ausgesöhnte Verschiedenheit" nennt. Und zitiert zum Abschluss Hape Kerkeling: "Liebe ist: Arbeit, Arbeit, Arbeit!" In Lahr ist sie tatsächlich zu spüren, die Liebe. Was für eine schöne Abwechslung.
Quelle: n-tv.de
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