er Zusatz im neuen Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals beschränkte sich auf wenige Sätze, kam für die Krankenkassen überraschend und war von Gesundheitsminister Jens Spahn als Befreiungsschlag für die Justiz gedacht. "Die Regelung zielt auf die Entlastung der Sozialgerichte und der Durchsetzung des Rechtsfriedens, der mit der rückwirkenden Einführung der verkürzten Verjährungsfrist beabsichtigt ist“, heißt es in der Bundestagsdrucksache 19/5593 (pdf) zu dem Regelwerk aus dem Hause Spahn.
Bisher hatten die Krankenkassen vier Jahre Zeit, um gegen mutmaßlich fehlerhafte Abrechnungen der Kliniken vor Gericht zu ziehen. Spahn halbierte die Frist auf zwei Jahre. Allerdings ließ der CDU-Politiker - gemessen an sonstigen parlamentarischen Verfahren - äußerst kurzfristig eine Übergangsregelung einbauen. Etwaige Rückzahlungsansprüche der Krankenkassen aus der Zeit 2014 bis Ende 2016 können nicht mehr geltend gemacht werden, wenn die entsprechende Klage nicht bis zum 9. November 2018 - dem Tag, an dem der Bundestag das "Pflegepersonal-Stärkungsgesetz" verabschiedete - bei einem Sozialgericht eingereicht worden ist.
Die Regierung sei angetreten, "um konkret Dinge anzupacken, um Dinge besser zu machen", lobte Spahn in seiner zehnminütigen Ansprache vor der Parlamentsentscheidung die Neuerungen, deren grundsätzliche Stoßrichtung von Opposition und Verbänden gelobt werden. In Richtung seiner Kritiker kommentierte der Minister: "Ich bin mir, wenn ich hier so mancher Rede zuhöre, nicht sicher, ob alle das Ausmaß dessen erfasst haben, was wir da gerade machen."
Dieser Satz droht nun zum Bumerang zu werden. Denn in der Öffentlichkeit könnte sich der Eindruck breitmachen, Spahn habe die Auswirkungen seines Gesetzes nicht vollständig überblickt. Der Kandidat für den CDU-Vorsitz war von den Krankenkassen gewarnt worden, die Verjährungsfrist für strittige Leistungen zwischen 2014 bis 2016 nicht urplötzlich einzugrenzen. Einige Tage vor der Verabschiedung der Regelungen im Parlament schrieben sie einen Brandbrief an den Gesundheitsausschuss. Sie rieten dringend davon ab, Kliniken mit einer "Generalamnestie für falsche Rechnungen" bis zum 1. Januar 2017 zu beglücken - eine Darstellung, die die Deutsche Krankenhausgesellschaft im Einklang mit Spahn zurückweist. Der Betrag, um den es für die fraglichen Jahre geht, dürfte im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich liegen.
Sozialgerichte ohnehin "mehr als ausgelastet"
"Die im letzten Moment ins Gesetz aufgenommene rückwirkende Verkürzung der Verjährungsfristen birgt die Gefahr einer Prozesslawine, die niemand wollen kann", erklärte Johann-Magnus von Stackelberg, der stellvertretende Vorstandschef des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Der Politik stehe es selbstverständlich zu, die Einengung des Zeitfensters zu beschließen. "Diese allerdings rückwirkend festzusetzen, löst rechtliche Unsicherheiten aus, die nicht nötig wären."
Tatsächlich hatten die Krankenkassen zu dem Zeitpunkt der Erklärung des GKV-Funktionärs schon Sonderschichten geschoben, um Klagen einzureichen, allein, wie es heißt, um die Vorstände gegen Haftungsansprüche zu schützen. Spahns - generell gelobter - Ansatz, für schnellere Rechtssicherheit sorgen zu wollen, damit Krankenhäuser finanzielle Rücklagen abbauen und das Geld in die Pflege stecken könnten, wird somit ad absurdum geführt. Denn es kam, wie von der GKV prognostiziert. Auf den letzten Drücker zogen Krankenkassen vor die ohnehin chronisch überforderten Sozialgerichte.
Über Deutschland nun rollt keine Klageflut, sondern ein regelrechter Tsunami. Aus den Bundesländern werden ungewöhnlich hohe Zahlen gemeldet: aus Bayern 14.000, aus Rheinland-Pfalz 15.000, aus Hamburg 3000, um nur einige Beispiele zu nennen. "Das ist ein Problem, das sich durch ganz Deutschland zieht", heißt es beim Bundessozialgericht in Kassel. Dabei dürfte das Ausmaß der einzelnen Fälle die Zahl der Klagen um ein Vielfaches übersteigen. In ihrer Zeitnot formulierten Krankenkassen nicht für jeden einzelnen Kostenstreit einen eigenen Einspruch. Sie bündelten ihre Forderungen teilweise aus Hunderten Fällen in einer Klage, um mögliche Ansprüche gegen eine oder mehrere Kliniken durchzuboxen.
Aus der Justiz kommen besorgte bis empörte Stimmen als Reaktion. Der zu erwartende Arbeitsaufwand für Richter und Verwaltung wird sichtbar, wenn man die Widerspruchseingänge ins Verhältnis zu den Vorjahren setzt. Normalerweise seien es jeweils rund 11.000 Klagen zwischen 1. Januar und 31. Dezember, zitieren die "Kieler Nachrichten" Richter Bernd Selke vom Landessozialgericht in Schleswig. "Nun sind es innerhalb von zwei Wochen 5000 nur zu strittigen Abrechnungen durch Kliniken." Das sei das Jahrespensum von 15 Richtern. Die vier Sozialgerichte Schleswig-Holsteins seien auf diese Menge nicht vorbereitet. "Wir sind bereits mehr als ausgelastet." Zurzeit warteten die Bürger im Schnitt 1,5 Jahre auf ein Urteil.
Nach Einschätzung des Präsidenten des Bayerischen Landessozialgerichts, Günther Kolbe, reichen die rund 14.000 Klagen aus, drei der sieben Sozialgerichte in dem Bundesland ein ganzes Jahr zu beschäftigen. Verantwortlich sei "eine Hauruck-Aktion" des Bundesgesetzgebers, meinte Kolbe unter Verweis auf die komplizierte Materie, die es zu beackern gilt.
Die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler kündigte für den 29. November einen Runden Tisch in ihrem Bundesland an. Offenkundig habe der Bund die Sache unterschätzt und nicht das Gespräch mit Krankenkassen und Krankenhäusern gesucht, sagte die SPD-Politikerin. Eine längere Stichtagsregelung hätte ihrer Meinung nach den Weg zu außergerichtlichen Gesprächen und Vereinbarungen freimachen können. Selbst wenn der Bundesrat noch Änderungen beschlösse, müssten könnten die Gerichte die Klagen nicht unbearbeitet lassen. Der Hamburger Justizsenator Till Steffen von den Grünen sagte, der Bund müsse das von ihm verursachte Problem "umgehend" lösen. Die Klagewelle beweise "eindrucksvoll die Unfähigkeit der Großen Koalition, Gesetze mit Hand und Fuß zu beschließen".
Quelle: n-tv.de
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