Krieg würde ganz Europa zerstören – Politikmagazin gegen Vergessen alter Erkenntnisse

  01 Dezember 2018    Gelesen: 1076
Krieg würde ganz Europa zerstören – Politikmagazin gegen Vergessen alter Erkenntnisse

Sind Kriege wieder führbar geworden? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe der Politikzeitschrift „WeltTrends“. Die Antwort fällt deutlich aus – indem an Wissen aus der Zeit des Kalten Krieges erinnert wird. Zugleich wird auch vor der antirussischen Ausrichtung der neuen Bundeswehr-Konzeption gewarnt.

„Europa ist nicht (mehr) kriegstauglich!“ An diese Erkenntnis aus den 1980er Jahren erinnert Raimund Krämer, Chefredakteur der Zeitschrift „WeltTrends“, in deren aktueller Dezember-Ausgabe (Nr. 146). Er stellt fest, dass dieses Wissen allerdings anscheinend verloren gegangen ist. Diese „wichtige Erkenntnis, zu der man Ende der 1980er Jahre in Gesamteuropa kam, damals in Ost und West geteilt und politisch und militärisch feindlich aufgestellt, dass man keinen Krieg gewinnen, ja, dass man keinen Krieg in Europa führen kann“, dürfe aber „nicht dem Ozean des Vergessens überlassen“ werden.

Im Dezember-Heft von „WeltTrends“ beschäftigen sich entsprechend die meisten Beiträge mit der Frage bisheriger und aktueller Kriegsgefahren vor allem in Europa. So wird auszugweise ein Beitrag der beiden DDR-Autoren Max Schmidt und Wolfgang Schwarz aus dem 1990 veröffentlichten gesamtdeutschen Sammelband „Verwundbarer Frieden: Zwang zu gemeinsamer Sicherheit für die Industriegesellschaften Europas“ wieder abgedruckt. Sein Inhalt klingt hochaktuell und beschreibt weiterhin drohende Gefahren für Europa durch einen militärischen Konflikt auf dem Kontinent.

Die Autoren stellten vor fast 30 Jahren fest: „Ein derartiger Krieg – und jeder militärische Zusammenstoß oder Konflikt, der dazu eskaliert – würde heute die Vernichtung der europäischen Zivilisation und in seiner Konsequenz mit hoher Wahrscheinlichkeit der Weltzivilisation nach sich ziehen. Krieg ist auf unserem Kontinent unter rationalen Gesichtspunkten nicht mehr führbar – weder konventionell noch chemisch oder gar nuklear, weder als Angriffs- noch als Verteidigungskrieg!“

Hochverwundbare Industriegesellschaften

Schon allein angesichts eines möglichen konventionellen Krieges sei der „zentrale, entscheidende Punkt“, dass hochindustrialisierte Länder „gesamtgesellschaftlich und existenziell von einer dauerhaften Versorgung mit Elektroenergie abhängig sind. Bereits bei einem mittel- oder gar längerfristigen Ausfall in dieser Hinsicht steht ihr Funktionieren bzw. Überleben auf dem Spiel.“ In Folge eines Ausfalls oder einer gezielten Zerstörung des Energienetzes drohe ein sozialer Kollaps binnen weniger Stunden.

Schon damals wurde auf die Abhängigkeit der europäischen Industriestaaten von „Hochrisikotechnologien und —systemen mit sozialem und ökologischem Katastrophenpotenzial“ und der daraus folgenden Verwundbarkeit hingewiesen. Dazu gehöre vor allem die Nutzung der Kernenergie. Die Atomreaktoren auf dem europäischen Kontinent würden sich „gewissermaßen in radiologische Waffen verwandeln“, die die Strahlungsfolgen von Kernwaffen „bei weitem übertreffen würden“.

Die beiden Autoren verwiesen auf damalige Erkenntnisse in Ost und West. Ähnlich gefährlich seien Angriffe und Zerstörungen der weit gefächerten chemischen Großindustrie. Der gleiche industrielle Entwicklungsstand hätte im Zweiten Weltkrieg zu irreparablen Schäden geführt und einen Wiederaufbau von Städten und Fabriken unmöglich gemacht. „Ein Feuersturm oder Flächenbrand heute – in einer Großstadt eines hochindustrialisierten Staates – würde das betreffende Territorium praktisch unbewohnbar machen, weil die Verbrennung der allein in der Bauindustrie verwendeten Plastikwerkstoffe immense Mengen hochtoxischer, langlebiger Gifte (unter anderem der von Seveso her bekannten Art von Dioxin) erzeugen wurde.“

Frieden als einzige Existenzbedingung

Die verschiedenen Faktoren würden es unmöglich machen, mögliche Schadenswirkungen durch einen Krieg in Europa vorauszuberechnen.

„Das führt zu der Schlussfolgerung, dass aus Europa selbst in einem ‚bloß‘ konventionellen Krieg eine atomar, chemisch (…) und anderweitig verseuchte Wüste werden würde, dass ein in seinen Ausmaßen letztlich unvorstellbares ökologisches und soziales Desaster ausgelöst würde. Krieg ist damit in jeder Form zum tödlichen Risiko für die europäischen Staaten geworden (…).“

Die Autoren stellten fest, dass die europäischen Gesellschaften nur noch unter Friedensbedingungen funktionsfähig seien und raumgreifende militärische Konflikte nicht überleben würden. Ko-Autor Schmidt verstarb in diesem Jahr. Politologe Schwarz ergänzt den Text von 1990 durch die aktuelle Bemerkung, Begriffe wie Landesverteidigung oder Verteidigungsfähigkeit hätten Ende der 1980er Jahre ihren unangezweifelten Sinngehalt verloren: „Sie waren zu inhaltsleeren Anachronismen geworden, die Sicherheitspolitiker wie auch Militärs beider Seiten kaum mehr im Munde führten, um sich nicht als hoffnungslos gestrig zu outen.“

Schwarz verweist auf die inzwischen mit der Digitalisierung erhöhte Verwundbarkeit der vernetzten gesellschaftlichen Lebenssysteme. Deshalb müssten jene, die heute wieder Begriffe wie „Bündnis- und Landesverteidigung“ sowie „Verteidigungsfähigkeit“ im offiziellen sicherheitspolitischen Sprachgebrauch verwenden, an die Erkenntnisse von vor 30 Jahren erinnert werden.

Sicherheit nur mit Russland möglich

Der Politologe steuert zum „WeltTrends“-Schwerpunkt im Dezember einen weiteren Beitrag bei, indem es um die notwendige Sicherheitspartnerschaft in Europa geht. Darin stellt er fest: „Ein Angriffskrieg Russlands oder der Nato gegen die jeweils andere Seite muss auf absehbare Zeit nicht befürchtet werden. Plausible Kriegsziele sind nicht erkennbar.“ Dennoch warnt er vor einem „kriegerischen Zusammenstoß“ in Folge eines Zwischenfalls an der Nato-Ostflanke durch eine sich aufschaukelnde lokale Eskalation.

Schwarz schreibt gegen die Illusion an, dass die Nato-Präsenz an der russischen Westgrenze die baltischen Staaten und Polen schützen würde. „Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland in einer militärischen Auseinandersetzung ist nicht möglich! Wirkliche Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist eine Schimäre. Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist nur mit dieser gemeinsam zu haben.“

Er plädiert für eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland durch eine aufgewertete OSZE und ein System kollektiver Sicherheit von Wladiwostok bis Vancouver, wie es Moskau 2008 samt Vertragsentwurf vorgeschlagen hatte. Ebenso ist für ihn vorstellbar, die Nato für Russland zu öffnen. Schwarz bedauert, dass solche Ansätze in der bundesdeutschen und westlichen Politik heute, aber ebenso „aufnahmebereite Ansprechpartner in Russland“ fehlen würden.

Gefährliche Bundeswehr-Konzeption

Einen weiteren Beitrag steuert der Völkerrechtler Gregor Schirmer bei. Er bezeichnet die neue Konzeption für die Bundeswehr als „gefährlich für Frieden und Völkerrecht“. Zugleich sei das Dokument von September dieses Jahres ein „antirussisches Pamphlet“, das unausgesprochen Russland als potenziellen Aggressor gegen die Bundesrepublik und ihre Verbündeten darstelle.

Der Völkerrechtler warnt, die Konzeption verwische „die Begriffe Angriff und Verteidigung, Frieden und Krieg bis zur Nichtunterscheidbarkeit“. Sie hantiere mit „vagen Begriffen wie hybride Kriegführung, Cyberangriff, Resilienz, digitales Gefechtsfeld, virtueller Gegenschlag, unkonventionelle Streitkräfte, asymmetrischer und terroristischer Angriff, hinter denen sich alles Mögliche verbergen lässt. Wenn sich diese Verwirrung der Begriffe durchsetzt, werden das Verbot von Gewalt in der Charta und letztlich auch das kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen zugrunde gerichtet.“

Der Abrüstungsexperte Lutz Kleinwächter analysiert in seinem Beitrag „Abschreckende Studien zum nuklearen Massenmord“ vor allem die Zeit des Kalten Krieges. „Die Erkenntnis einer möglichen Vernichtung der menschlichen Zivilisation beim Einsatz von Kernwaffen ist heute im Bewusstsein der Entscheidungseliten und der Bevölkerungsmehrheit aller Staaten, insbesondere der Kernwaffenstaaten, verankert und wirkt selbstabschreckend.“

Aktuelle Gefahr für Europa

Allerdings würden die aktuellen „hochgradig unkalkulierbaren Konzepte begrenzter Nuklearkriege, zur Kernwaffen-Miniaturisierung, zur Automatisierung und Digitalisierung der Kriegsführung sowie die anhaltende Weiterverbreitung der Kerntechnologie“ einer breiten antinuklearen Grundstimmung in der Öffentlichkeit entgegenstehen. Kleinwächter hofft, dass die „apokalyptische Absurdität der Folgen eines Kernwaffenkrieges“ weiterhin abschreckend wirkt und zum Erfolg der atomaren Abrüstung im 21. Jahrhundert beiträgt.

Eine der aktuellen Gefahren dafür ist, dass die USA unlängst den INF-Vertrag von 1987 aufkündigten. Mit den daraus entstehenden Gefahren für die Sicherheit Europas beschäftigt sich im „WeltTrends“-Heft Harald Kujat. Der ehemalige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses meint trotz der Gespräche zwischen Wladimir Putin und Donald Trump: „Die Hoffnung, dass Russland und die Vereinigten Staaten ernsthaft bemüht sein werden, den INF-Vertrag zu erhalten, indem das ausgelaufene Inspektionsregime unter Einschluss des ballistischen Raketenabwehrsystems der Nato verlängert und die beiderseitigen Vorwürfe ausgeräumt werden, wird sich wohl nicht erfüllen.“

Das liege an US-amerikanischen wie an russischen Interessen, meint der Ex-Bundeswehr-General. Er befürchtet in der Folge einer „ernste politische Krise“ in Europa und „dass die Kündigung des INF-Vertrages den Beginn eines bündnisinternen Konflikts zwischen den europäischen und dem US-amerikanischen Verbündeten markiert, der die Nordatlantische Allianz in ihren Grundfesten erschüttert“.

Während die Arabistin Renate Schmidt in dem Dezember-Heft an den „vergessenen Krieg“ im Jemen erinnert, gibt die aktuelle „WeltTrends“-Ausgabe außerdem kontroverse Antworten auf Kleinwächters Beitrag im August-Heft (Nr. 142) wieder. Darin hatte der Politikwissenschaftler behauptet, dass während des Kalten Krieges zu keinem Zeitpunkt ein tatsächlicher Krieg mit Atomwaffen gedroht habe. Das führte zu zahlreichen Reaktionen und Diskussionen, auch in der bundesdeutschen Friedensbewegung. Ein Teil davon ist nun nachlesbar.

sputniknews


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